Unsere Erwartungen können uns schon nach Sekunden falsche Erinnerungen unterschieben
Trügerische Erinnerung: Anders als gedacht treten falsche Erinnerungen nicht erst bei länger zurückliegenden Ereignissen auf. Stattdessen kann unser Gedächtnis schon Sekunden, nachdem wir etwas gesehen haben, verfälscht sein. Schuld daran sind unsere Erwartungen, wie Forschende herausgefunden haben. Denn widerspricht das, was wir sehen, unseren Erwartungen, korrigiert unser Gehirn diese Abweichung fast augenblicklich – und wir sind dann überzeugt davon, das Erwartete genau so gesehen zu haben.
Unsere Erinnerungen sind nicht so zuverlässig, wie wir gerne annehmen. Zahlreiche Studien haben bereits nachgewiesen, wie leicht sich unser episodisches Gedächtnis manipulieren lässt – sei es durch leichte Stromreize, Schlafmangel oder eine überraschende Ablenkung. Auch psychologische Manipulation kann uns falsche Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis einpflanzen: Nach einigen manipulativen Gesprächen glaubten Testpersonen beispielsweise, sich an eine Ballonfahrt in ihrer Kindheit zu erinnern, die niemals stattgefunden hat, oder sogar als Jugendliche eine Straftat begangen zu haben.
Spiegelverkehrte Buchstaben
Von unserem Kurzzeitgedächtnis dachte man dagegen bisher, es sei vor falschen Erinnerungen gefeit. Doch das ist offenbar falsch: „Unsere Experimente haben gezeigt, dass illusorische Erinnerungen auch dann auftreten können, wenn die zu erinnernden Gegenstände gerade erst aus dem Blickfeld verschwunden sind“, berichtet ein Team um Marte Otten von der Universität Amsterdam in den Niederlanden.
Für die Versuche zeigten die Forschenden ihren Testpersonen jeweils sechs bis acht Buchstaben auf einem Bildschirm. Nach 0,5 oder drei Sekunden sollten sie angeben, welcher Buchstabe an einer bestimmten Position stand und wie sicher sie sich mit ihrer Aussage waren. Der Clou dabei: Manche der Buchstaben waren spiegelverkehrt, also anders als erwartet.
Überzeugte Falschantworten
Obwohl bei den relevanten Versuchen auch die jeweils spiegelverkehrten Buchstaben zu den Auswahlmöglichkeiten zählten, glaubten die Testpersonen häufig, sie hätten den normalen Buchstaben gesehen – und gaben an, sich mit ihrer Antwort sehr sicher zu sein. Dass sie andersherum einen umgedrehten Buchstaben auswählten, wenn ein normaler gezeigt worden war, kam deutlich seltener vor.
„Da es viel häufiger vorkam, dass statt eines Pseudobuchstabens ein realer Buchstabe ausgewählt wurde, als andersherum, liegt die Ursache der Gedächtnistäuschung wahrscheinlich nicht an der visuellen Ähnlichkeit“, erklärt das Forschungsteam. „Stattdessen scheint sie das Ergebnis von Weltwissen zu sein, also der Prägung auf die übliche Ausrichtung von Buchstaben.“ Anders ausgedrückt: Weil wir wissen, wie Buchstaben normalerweise auszusehen haben, „korrigiert“ unser Gehirn die vermeintlich fehlerhafte Wahrnehmung im Nachhinein.
Zunehmende Fehlerwahrscheinlichkeit
Bei diesem Effekt spielt auch der Faktor Zeit eine Rolle: Wurden die Testpersonen 0,5 Sekunden nach der Buchstabeneinblendung befragt, machten illusorische Erinnerungen knapp 20 Prozent der Antworten aus. Nach drei Sekunden waren es dagegen bereits rund 30 Prozent. „Die Zunahme der Gedächtnistäuschungen im Laufe der Zeit deutet darauf hin, dass die Teilnehmer in unseren Experimenten zu Beginn hauptsächlich eine korrekte Wahrnehmung haben, die sie recht genau wiedergeben, wenn sie früh nach dem Verschwinden der Anzeige gefragt werden“, erläutern Otten und ihr Team.
„Mit der Zeit nehmen die Täuschungen zu, was darauf hindeutet, dass korrekt kodierte Wahrnehmungen eines Pseudobuchstabens in illusorische Erinnerungen an einen echten Buchstaben umgewandelt werden.“
Womöglich kommen dabei unterschiedliche Komponenten des Kurzzeitgedächtnisses zum Zuge: Das sogenannte ikonische Gedächtnis kann Eindrücke nur bis zu 0,5 Sekunden festhalten. Das Arbeitsgedächtnis dagegen kann mindestens vier Sekunden abspeichern, teilweise auch einige Minuten. Seine Kapazität ist allerdings Untersuchungen zufolge auf sieben Bedeutungseinheiten begrenzt. Hinzu kommt das sogenannte fragile Gedächtnis. Dieses funktioniert auf einer ähnlichen Zeitskala wie das Arbeitsgedächtnis, kann aber mehr abspeichern – und ist womöglich anfällig für falsche Erinnerungen.
Wechselspiel von Wissen und Gedächtnis
Auch außerhalb von Laborexperimenten kennen wir falsche Erinnerungen aus dem Alltag – beispielsweise, wenn wir uns ganz sicher sind, den Schlüssel in die Tasche gesteckt zu haben, obwohl er noch auf dem Esstisch liegt. Davon zu unterscheiden sind Gedächtnislücken. In diesem Fall können wir uns einfach nicht mehr daran erinnern, wo wir den Schlüssel hingelegt haben. Hier kann Vorwissen unserem Gedächtnis auf die Sprünge helfen und die Lücken füllen – beispielsweise mit der Information, dass wir unseren Schlüssel oft auf dem Esstisch liegen lassen.
Grundsätzlich ist der Rückgriff auf Weltwissen den Forschenden zufolge durchaus nützlich, um unser Gedächtnis effizienter zu gestalten. Doch wie die aktuelle Studie zeigt, kann es auch dafür sorgen, dass wir selbst unserem Kurzzeitgedächtnis nicht trauen können. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Weltwissen das Gedächtnis prägen kann, selbst wenn die Erinnerungen gerade erst gebildet wurden,“ so das Team. (PLoS ONE, 2023, doi: 10.1371/journal.pone.0283257)
Quelle: PLoS ONE