Überall auf der Welt sind Menschen davon überzeugt, dass die moralischen Werte verfallen. Aber für diese Ansicht gibt es keine empirischen Belege. Adam Mastroianni, Psychologe an der Columbia University in New York City, ärgerte sich stets darüber, wenn jemand behauptete, dass die Menschen immer weniger freundlich, respektvoll und vertrauenswürdig wären. Deshalb hat er nun gemeinsam mit Daniel Gilbert, Psychologe an der Harvard University in Cambridge, entsprechende Befunde aus mehreren Jahrzehnten ausgewertet: Einerseits hätten die Menschen weltweit über einen allgemeinen Werteverfall berichtet – andererseits aber die Moral ihrer Mitmenschen für weitgehend unverändert befunden. Daraus schließen Mastroianni und Gilbert, bei der Idee vom moralischen Niedergang handle es sich um eine Illusion.
Wie die beiden im Fachmagazin »Nature« schildern, analysierten sie US-Umfragen aus den Jahren 1949 bis 2019. Auf rund 84 Prozent der Fragen nach moralischen Werten gaben die Teilnehmer mehrheitlich an, dass die Moral gesunken sei. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch Umfragen in 59 anderen Ländern. In eigenen Umfragen in den USA 2020 stellten die beiden Autoren fest, dass die Menschen einander heute für weniger freundlich, ehrlich, nett und gut hielten als in früheren Zeiten. Diese Ansichten teilten Personen mit unterschiedlicher Herkunft, Bildung und politischer Einstellung sowie verschiedenen Alters und Geschlechts.
Die Forscher sichteten außerdem Studien, in denen die Probanden die Moral ihrer Zeitgenossen beurteilen sollten. Sie wählten dazu Umfragen aus, die mindestens zweimal mit einem Mindestabstand von zehn Jahren durchgeführt worden waren. So konnten sie die Antworten im Zeitverlauf vergleichen, zum Beispiel auf die Frage: »Wie würden Sie den allgemeinen Zustand der moralischen Werte in diesem Land heute bewerten?«
Wäre die Moral tatsächlich gesunken, hätte man erwarten können, dass die Urteile über die Zeitgenossen zunehmend negativer ausgefallen wären, so die Argumentation der beiden Forscher. Die Daten zeigten jedoch, dass sich die Einschätzungen nicht verändert hatten. Laut Mastroianni bedeutet dies, dass die verbreitete Vorstellung vom moralischen Niedergang falsch ist – oder zumindest schwer zu beweisen.
Melissa Wheeler, Ethikforscherin an der Swinburne University of Technology im australischen Melbourne, hält die Befunde für belastbar und die statistische »Power« der Studien für hoch, das heißt: Die Stichproben waren groß genug, um einen etwaigen Werteverfall nachzuweisen.
Die Illusion einer schlechten Moral hat Folgen
Dass weite Teile der Bevölkerung einen solchen Verfall dennoch zu beobachten meinen, findet die Psychologin Liane Young überraschend. Sie leitet das »Morallabor« am Boston College in Massachusetts, war aber nicht an der Studie beteiligt. »Ein solcher Kulturpessimismus ist verbreitet, wenn Menschen über andere Leute urteilen, die nicht zu ihrer Gruppe gehören. Interessant ist aber, dass er nicht mit Voreingenommenheit gegen Fremdgruppen zusammenhängt.« Die Autoren selbst spekulieren, dass Faktoren wie Gedächtnisverzerrungen zur Illusion des Werteverfalls beitragen könnten.
Laut Mastroianni kann diese Illusion reale Folgen haben. So habe eine Umfrage aus dem Jahr 2015 ergeben, dass 76 Prozent der Menschen in den Vereinigten Staaten der Meinung sind, die Bekämpfung des landesweiten Werteverfalls sollte »für die Regierung hohe Priorität haben« – eine Ansicht, die sich auf Wahlentscheidungen auswirken könnte. Ethikforscherin Wheeler glaubt: »Die Herausforderung besteht darin, die Menschen zu der Einsicht zu bringen, dass sie dieser ausgeprägten und verbreiteten Illusion anhängen.«
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Nature 618, S. 441–442, 2023