Neue Erkenntnisse könnten Diagnostik und Therapie neurologischer Erkrankungen verbessern
Durchlässiger als gedacht: Forschende haben mehr über die neuentdeckten Mini-Kanälchen in unserem Schädelknochen herausgefunden. Demnach enthalten diese Verbindungen zwischen Gehirn und Knochenmark Immunzellen, die in ihrer Zusammensetzung und Reaktion auf Krankheiten einzigartig sind. Zudem zeigte sich, dass sich Entzündungsprozesse im Gehirn auch an der Schädeloberfläche nachweisen lassen. Das eröffne neue Wege für die Früherkennung und Behandlung neurologischer Erkrankungen, so das Team im Fachmagazin „Cell“.
Unser Schädelknochen galt lange als eine Art Helm, der das Gehirn vor äußeren Einflüssen schützt, aber selbst keine direkte Verbindung zum Inneren hat. Doch kürzlich entdeckten Forschende winzige Kanäle im Schädelknochen, die es ermöglichen, dass Immunzellen direkt aus dem Knochenmark des Schädels zum Gehirn gelangen. Zudem stellte sich heraus, dass eine zuvor unbekannte, vierte Hirnhaut zugleich als Schutzschicht und als Stützpunkt für Immunzellen fungiert.
Spurensuche im Schädelknochen
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen hat ein Team um Zeynep Ilgin Kolabas vom Helmholtz Zentrum München nun mit Hilfe neuer Methoden weitere Einblicke in die Struktur der Schädel-Kanälchen und die Zusammensetzung der in ihnen vorkommenden Immunzellen gewonnen. Einen besonderen Fokus legten die Forschenden dabei auf entzündliche Prozesse, die beispielsweise nach einem Schlaganfall auftreten und zur Aktivierung zahlreicher Immunzellen führen.
In einem ersten Schritt lösten Kolabas und ihr Team bei Mäusen einen Schlaganfall aus, töteten die Tiere anschließend und machten ihr Gewebe mit einer speziellen Lösung transparent. Durch dieses „Tissue Clearing“ konnten sie die Schädel der Mäuse mit hochauflösender 3D-Bildgebung analysieren und dabei Einblicke zu erhalten, wo sich welche Zellen in Folge des Schlaganfalls anreichern.
Auch Schädelknochen von menschlichen Spendern analysierte das Team auf ähnliche Weise und machte so die Kanäle zwischen Knochenmark und Gehirn sichtbar. Zudem untersuchten die Forschenden sowohl bei Mäusen als auch in menschlichen Knochen die Zusammensetzung der RNA-Transkripte und der Proteine im Schädel und anderen Knochen.
Einzigartige Abwehrzellen
Die Analysen enthüllten: Im Mark und den Kanälchen des Schädelknochens werden als Reaktion auf Entzündungen des Gehirns einzigartige neutrophile Immunzellen freigesetzt. Diese Art der weißen Blutkörperchen kommt nicht im Mark anderer Knochen des Körpers vor, wie Vergleichsanalysen ergaben. Es zeigte sich zudem, dass sich der Schädelknochen auch in Bezug auf seine Genaktivität und Proteine deutlich von allen anderen Knochen des Körpers unterscheidet.
Die Untersuchungen an menschlichen Schädelproben lieferten auch interessante Details zu den Schädelkanälchen: „Die Lumen dieser Kanäle sind von einer Schicht fibroblastischer Zellen ausgekleidet, die auch als antigen-präsentierende Zellen bekannt sind“, berichten die Forschenden. Diese Immunzellen könnten als Sensoren dienen, die das eindringende Hirnwasser auf mögliche Anzeichen einer Infektion oder Entzündung beproben.
Fettgefüllte Röhrchen und krankheitsanzeigende Proteine
Das Tissue Clearing enthüllte zudem, dass die Schädelkanäle beim Menschen – anders als bei den Mäusen – mit Fetten und anderen Lipiden gefüllt sind. Nach Ansicht von Kolabas und ihren Kollegen könnte diese Lipidfüllung den Transport der Immunzellen durch die Schädelkanälchen erleichtern. Gleichzeitig könnte die fetthaltige Substanz auch als Energiequelle für Stammzellen des Knochenmarks dienen.
Anhand von Hirnscans per Positronen-Emissions-Tomografie (PET-Scans) stellten die Forschenden zudem fest, dass die Entzündungsprozesse bei Krankheiten wie Alzheimer oder Schlaganfällen mit spezifischen Hirnsignalen einhergehen. „Im Gehirn ist bei solchen neuroinflammatorischen Prozessen das TSPO-Protein auffallend hochreguliert“, berichten sie. Dies lässt sich mittels PET nachweisen. Zu ihrer Überraschung fanden sie das Signal dieser Proteine aber nicht nur im Gehirn selbst, sondern auch in Zellen des darüberliegenden Schädelknochens.
Hirnentzündungen am Schädel erkennen
„Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Verbindung zwischen Schädel und Gehirn weitaus komplexer ist als bisher angenommen“, sagt Kolabas. Gleichzeitig eröffnet die jetzt entdeckte Reaktion des Schädels auf Prozesse im Inneren des Gehirns auch neue Möglichkeiten zur Diagnose und Behandlung von Gehirnerkrankungen. So könnten Gehirnentzündungen in Zukunft möglicherweise einfach durch das Scannen der Kopfoberfläche der Betroffenen überwacht werden.
„Das könnte zu einer effektiveren Überwachung von Erkrankungen wie Alzheimer und Schlaganfall führen und möglicherweise sogar dazu beitragen, den Ausbruch dieser Krankheiten durch frühzeitige Erkennung zu verhindern“, sagt Kolabas Kollege Ali Ertürk. (Cell, 2023, doi: 10.1016/j.cell.2023.07.009)
Quelle: Helmholtz Zentrum München Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH)