Moralische Überzeugungen von Menschen sind im Gehirn messbar
Neurologische Kartierung der Moral: Ähnlich wie der Sinn für Spiritualität ist offenbar auch unser Moralempfinden mit spezifischen Schaltkreisen im Gehirn verknüpft. Dadurch sind moralische Überlegungen von Personen in deren Gehirn anhand charakteristischer Aktivitätsmuster erkennbar, wie eine aktuelle Studie zeigt. Die Forschenden fanden dabei auch neurologische Unterschiede zwischen verschiedenen Moralkategorien und Personen mit unterschiedlichen Wertevorstellungen.
Wie Menschen miteinander umgehen, wird von moralischen und sozialen Normen und den Belohnungen und Bestrafungen gesteuert, die sich aus deren Einhaltung oder Verletzung ergeben. Moralvorstellungen und moralische Verfehlungen begegnen uns jeden Tag. Dabei geht es etwa um Fairness, Ehrlichkeit, Rücksichtnahme oder Verrat. Während sich viele moralische Überlegungen um die Frage nach einem entstandenen Schaden drehen, ist die Palette der Situationen, in denen wir moralisch handeln, groß.
Darüber, wie vielfältig moralische Bewertungen tatsächlich sind und ob ihnen ein gemeinsames Merkmal zugrunde liegt, streiten sich Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler daher seit Jahrhunderten.
Kategorien und Aspekte der Moral
Eine Forschungsgruppe um Frederic Hopp von der University of California in Santa Barbara ist dieser Frage auf neurologischer Ebene nachgegangen. Dabei legten sie ihren Methoden eine der gängigsten Theorien der Moralpsychologie zugrunde, die Moral Foundations Theory (MFT). Diese Theorie unterteilt die Moral in sechs Aspekte: Fürsorge und Schaden, Fairness und Betrug, Freiheit und Unterdrückung, Loyalität und Verrat, Autorität und Unterwerfung sowie die Wahrung der Würde.
Diese Verhaltensmerkmale gelten in der MFT als angeborene und universelle moralische Veranlagungen, eine Art „intuitive Ethik“. Diese Aspekte werden auch in zwei große Moralkategorien unterteilt: In die „individualisierende“ Kategorie, deren Moralaspekte die Rechte und Freiheiten des Einzelnen schützen, und in die „verbindende“ Kategorie, die vor allem auf das Wohl von Gruppen abzielt.
Wie zeigen sich moralische Haltungen im Gehirn?
Ob sich diese verschiedenen Aspekte der Moral mit Gehirnscans nachweisen lassen, untersuchten Hopp und sein Team bei 64 Personen. Dafür ließen sie die Studienteilnehmenden zunächst Fragebögen zu moralischem Verhalten ausfüllen und führten mit ihnen vertiefte Interviews durch, um ihre moralische und soziale Einstellung zu ermitteln. Als Kontrolle dienten dabei Fragen zur sozialen Norm.
Dann zeichneten die Wissenschaftler die Hirnaktivität der Testpersonen mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) auf, während sich diese Gedanken um 120 verschiedene standardisierte Situationen von moralischem oder sozialem Fehlverhalten machten. Beispielsweise sollten die Teilnehmenden beurteilen, ob es moralisch verwerflich ist, bei einem Test zu schummeln, oder sozial angebracht, Kaffee mit einem Löffel zu trinken.
Spezifische Hirnnetzwerke bei moralischem Urteil aktiv
Die Ergebnisse zeigten, dass nicht ein einzelnes Areal, sondern ein breites Netzwerk aus verschiedenen Gehirnregionen im gesamten Cortex an der Beurteilung von moralischen Verfehlungen beteiligt ist. Dieses Muster der Hirnaktivität unterschied sich deutlich von der Aktivität bei nicht-moralischen Beurteilungen wie der Bewertung von sozialen Normen. Unter anderem waren bei moralischen Überlegungen etwa der sogenannte mediale präfrontale Cortex, der primäre visuelle Cortex und der anteriore cinguläre Cortex aktiv. Das erste Areal liegt im vorderen Hirnbereich und ist primär für die Steuerung der eigenen Handlung zuständig. Der anteriore cinguläre Cortex liegt im hinteren Hirnbereich und ist vermutlich an der Fehlererkennung und Entscheidungsfindung beteiligt.
Die Probanden brauchten in der Studie zudem länger, um moralische Situationen zu bewerten als nicht-moralische. Die Forschenden gehen daher davon aus, dass moralische Einschätzungen eine detailliertere Analyse des Kontexts erfordern als andere Beurteilungen. „Das kann komplex sein und braucht Zeit“, so Seniorautor René Weber.
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass sich die bei Moral aktiven Hirnregionen teilweise mit Gehirnarealen decken, die auch an den Denkweisen der „Theory of Mind“ und beim Mentalisieren beteiligt sind. So nennt die Psychologie bestimmte Vorgänge des Beobachtens, Nachdenkens, Vorstellens und Beurteilens, die unter anderem auch für Empathie wichtig sind.
Moralkategorien und politische Einstellung in Hirnscans erkennbar
Das Team um Hopp beobachtete in den Gehirnscans außerdem, dass moralische Beurteilungen in Bezug auf Loyalität, Autorität und Würde, die die MFT zur „verbindenden“ Kategorie der Gruppenmoral zählt, bei den Probanden Gehirnregionen aktivierten, die allgemein das Handeln anderer Menschen verarbeiten.
Aus der Auswertung der vorab durchgeführten Befragungen und den Gehirnscans zeigten sich darüber hinaus bei derselben moralischen Situation Unterschiede zwischen den moralischen Urteilen von politisch liberalen und konservativen Probanden. Liberale Personen seien sensibler für moralische Aspekte aus der „individualisierenden“ Moralkategorie der MFT wie zum Beispiel Fairness, schreiben die Forschenden. Konservative legten hingegen mehr Wert auf die „verbindenden“ Moralaspekte von Gruppen.
„Wir waren überrascht, wie gut sich die Einteilung in ‚individualisierende‘ und ‚verbindende‘ moralische Grundlagen auf der neurologischen Ebene in mehreren Netzwerken widerspiegelt“, sagte Weber dazu.
Detaillierte Kartierung der Moral im Gehirn möglich
Nachdem die Wissenschaftler die Parameter und die Bildauflösung verfeinerten, traten noch deutlichere Unterschiede zwischen den Aktivitätsmustern bei verschiedenen moralischen Überlegungen auf. Basierend darauf entwickelten die Forschenden in einem weiteren Experiment einen Algorithmus, der durch maschinelles Lernen aus den aktiven Hirnarealen zuverlässig nicht nur die jeweilige Moralkategorie, sondern auch den jeweils angesprochenen Moralaspekt identifizierte, mit dem sich die Teilnehmenden während der Untersuchung mental beschäftigten.
Diese Beobachtung wäre nicht möglich gewesen, wenn alle moralischen Aspekte und Kategorien der MFT auf neurologischer Ebene einheitlich verarbeitet würden, erklärten die Wissenschaftler.
Rückschlüsse auf die Verarbeitung von Moral im Gehirn
Das Forschungsteam schließt aus den Ergebnissen, dass das Gehirn verschiedene moralische Problemstellungen zwar in gemeinsamen Hirnregionen verarbeitet, die Bewertung dabei aber auf mehrere Weisen umsetzt und dass sich diese je nach Wertevorstellung der Individuen unterscheidet. Moralisches Denken aktiviere bestimmte Hirnregionen, „doch die Aktivierungsmuster in diesen Regionen sind für verschiedene moralische Verhaltensweisen sehr unterschiedlich“, so Hopp.
Dies lege nahe, dass die verschiedenen moralischen Aspekte und Kategorien der MFT eine gemeinsame neurologische Grundlage haben, sich im Detail aber unterscheiden. „Unsere Ergebnisse tragen zu einem besseren Verständnis dessen bei, was moralische Urteile sind, wie sie verarbeitet werden und wie sie über verschiedene Gruppen hinweg vorhergesagt werden können“, schließt Weber.
Künftig könnte die Wissenschaft möglicherweise untersuchen, ob sich die Beobachtungen der Studie auf andere Situationen ausweiten lassen. Die Probanden würden dann beispielsweise nicht die von den Forschenden gestellten moralischen Situationen beurteilen, sondern den Inhalt eines Zeitungsartikels, einer Radio- oder Fernsehsendung auf moralisches Fehlverhalten bewerten. (Nature Human Behaviour, 2023; doi: 10.1038/s41562-023-01693-8)
Quelle: University of California – Santa Barbara