Neuauflage des berühmten Elektroschock-Experiments liefert neue Einblicke
Milgram auf dem Prüfstand: Das berühmt-berüchtigte Milgram-Experiment zeigte in den 1960er Jahren, dass die meisten Menschen anderen schmerzhafte und sogar potenziell tödliche Elektroschocks verabreichen, wenn es ihnen von einem Versuchsleiter befohlen wird. Doch anders als lange vermutet, führt offenbar nicht allein die Autorität des Versuchsleiters zu diesem bedingungslosen Gehorsam, sondern auch die mangelnde räumliche Nähe zum Leidenden, wie eine Neuauflage des Experiments nun zeigt.
In den frühen 1960er Jahren testete der US-Psychologe Stanley Milgram in einem Experiment, wie weit Menschen gehen, wenn sie einer Autoritätsperson gehorchen. Die Antwort: sehr weit. Im Experiment wurde den Probanden die Rolle eines Lehrers zugeteilt, der einem vermeintlichen Lernenden im Nebenraum immer dann per Knopfdruck Elektroschocks verpassen sollte, wenn dieser einen Fehler bei der Wiedergabe von Inhalten machte. So sollte angeblich erforscht werden, ob Bestrafung den Lernerfolg erhöht.
Die immer stärker werdenden Elektroschocks ließen den Lernenden – einen Schauspieler, der nicht tatsächlich verletzt wurde – vor Schmerzen laut schreien. Doch das hielt die meisten Probanden nicht davon ab, den Anweisungen des Versuchsleiters trotzdem bis zum Schluss Folge zu leisten und schließlich auf den quasi-tödlichen 450-Volt-Knopf zu drücken. Auch heute noch kommen Neuauflagen des Experiments zu ähnlichen Ergebnissen. Aber warum handeln die Probanden so?
Ist es wirklich nur die Autorität?
Milgram selbst sah die Autorität des Versuchsleiters im weißen Kittel als Grund für die unmoralischen Handlungen der Testpersonen. Denn indem die Probanden dem Versuchsleiter untergeordnet sind, fühlen sie sich nicht mehr selbst verantwortlich für ihre Handlungen. Das treibt sie schließlich dazu, ihre Mitmenschen zu verletzen, obwohl sie dies unter normalen Bedingungen sehr wahrscheinlich nicht tun würden – so zumindest die Theorie.
Doch ist es wirklich nur der Versuchsleiter, der die Entscheidungen der Probanden beeinflusst? Um das herauszufinden, haben Dariusz Doliński und Tomasz Grzyb von der SWPS Universität in Warschau nun eine Neuauflage des Experiments konzipiert. Ihr Ansatz: Vielleicht ist es stattdessen die räumliche Anordnung des Experiments, die über Gehorsam und Verweigerung entscheidet.
Eine emotionale Zwickmühle
Beim Milgram-Experiment befinden sich die Testpersonen in einer Zwickmühle: Einerseits wollen sie nicht ihre Mitmenschen verletzen, was sich im Originalexperiment an extremem Stress und Zögern zeigte. Andererseits wollen die Probanden aber auch nicht den Versuchsleiter enttäuschen, der viel Mühe und Zeit in seine Forschung gesteckt hat und nun auf ihre Hilfe angewiesen ist. Im Original hatte er sie sogar kurz nach ihrer Ankunft für ihre Mithilfe bezahlt und so in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis gedrängt.
Egal, wie die Probanden also handeln: Einer Seite schaden sie immer. Doch könnte es sein, dass sie sich im Original nur deshalb so oft auf die Seite des Versuchsleiters geschlagen haben, weil er im selben Raum mit ihnen stand, während der Lernende im Nebenraum untergebracht war? Vielleicht fühlte sich sein Leiden dadurch weit weg an, während die Verantwortung dem Versuchsleiter gegenüber direkt greifbar war? Um das herauszufinden, wiederholten Doliński und Grzyb das Milgram-Experiment in vier verschiedenen Varianten: nur der Versuchsleiter ist im Probanden-Raum anwesend, nur der Lernende ist dort anwesend, beide sind anwesend oder alle Beteiligten sind jeweils in unterschiedlichen Räumen untergebracht.
Räumliche Nähe erhöht Hemmschwelle
Und tatsächlich: Befand sich der Versuchsleiter im selben Raum wie der Proband, gehorchten etwa 86 Prozent seinen Anweisungen und verabreichten selbst starke Elektroschocks. War die Autoritätsperson jedoch nicht direkt anwesend, waren es „nur“ 74 Prozent. Ähnliches galt für die räumliche Nähe und die Sichtbarkeit des „Opfers“: War der Lernende im Raum anwesend, verteilten 71 Prozent der Probanden die Elektroschocks wie gefordert, war er im Nebenraum, drückten 87 Prozent auf den Knopf.
All das sind zwar immer noch sehr hohe Werte, sie zeigen aber, dass neben der reinen Existenz des Versuchsleiters auch dessen direkte Anwesenheit und die räumliche Nähe zum Lernenden wichtige Variablen in der Gehorsamsgleichung sind. „Die von uns erzielten Ergebnisse legen nahe, dass es wichtig ist, die Entfernungen zwischen dem Teilnehmer und dem Lernenden einerseits und zwischen dem Teilnehmer und dem Versuchsleiter andererseits gleichzeitig zu berücksichtigen“, fasst Doliński zusammen. (The Journal of Social Psychology, 2024; doi: 10.1080/00224545.2024.2348479)
Quelle: SWPS University