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„ARMENIERMORD“ – ARMENOZID – GENOZID – VÖLKERMORDVERHINDERUNG

„ARMENIERMORD“ – ARMENOZID – GENOZID – VÖLKERMORDVERHINDERUNG

Aspekte politikhistorisch vergleichender Völkermordforschung

In diesem Text geht um den bis heute in der Türkei (Türkiye Cumhuriyetiz) tätergesellschaftlich geleugneten spätosmanischen Genozid an den christlichen Armeniern während des Ersten Weltkriegs, dem historisch ersten „großen Weltfest des Todes“ (Thomas Mann). Der Autor diskutiert als Sozialwissenschaftler den ersten staatlich „organisierten und geplanten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ (Edgar Hilsenrath) im geschichtlichen wie im begrifflichen Zusammenhang und spricht zugleich Grundfragen von Erinnerung und Erinnerungsarbeit, Völkermord und Vernichtungsrassismus, Genozidpolitik und Genozidtheorie im 20. Jahrhundert an.

„Musa Dagh“

Der Prager Schriftsteller Franz Werfel (*1890 †1945) schrieb 1919 die Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“. Sie wurde 1920 in einem auf expressionistische Literatur spezialisierten Verlag veröffentlicht. Die griffige Titelmetapher – der Ermordete ist schuldig – wurde im Deutschland der 1920er Jahre so etwas wie ein geflügeltes Wort. Auch heute noch, mehrere Generationen später, könnte es so scheinen, als hätte Franz Werfel seine künstlerische Visionskraft entwickelt, um einen wenig später folgenden Gerichtsprozess – den „Prozess Talaat Pascha“ – vorwegzunehmen.

Ein Dutzend Jahre später war es wiederum Franz Werfel, der in künstlerisch-visionärer Zusammenschau den Zusammenhang von Rassismus und Völkermorden sah und ausdrücklich daran erinnerte. Nach Machtübergabe, Machtübernahme und Machtausübung durch den Nationalsozialismus am bzw. seit dem 30. Januar 1933 in Deutschland betonte der Autor in seiner Nachbemerkung zum Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933): Es ginge ihm darum, „das unfaßbare Schicksal des armeni-schen Volkes dem Totenreich allen Geschehenen zu entreißen.“

Dieses doppelte Anliegen des Autors als Künstler drückt sowohl einen zentralen Fluchtpunkt allen Erinnerns aus – etwas nicht im „Totenreich allen Geschehenen“ zu belassen, sondern es diesem zu „entreißen“ – als auch im konkret-historischen ‚Fall‘ „des armenischen Volkes“ während des Ersten Weltkriegs ‚hinten in der Türkei‘ dessen „unfassbares Schicksal“.

„Armenozid“

Wie Genozid und Holocaust ist auch Armenozid ein Kunstwort. Es ist das deutsche Substantiv des englischen Armenocide. Beide Worte sind von Armenius cidere abgeleitet. Sie meinen den Völkermord im Osmanischen Staat an den Armeniern als religiöser, ethnischer und politischer Minderheit während des Ersten Weltkriegs. Dies war der erste staatliche Völkermord im 20. Jahrhundert. Im Wort finden sich sowohl die Opfergruppe (Armenier) als auch das Mordgeschehen (cidere). Über die Form des Mord(en)s wird, im Gegensatz zum viel bekannteren Begriff und Kunstwort Holocaust (wörtlich: holokaustos im Sinne von völlig verbrannt), im Wort Armenozid nichts ausgesagt. Obwohl doch, beim Wort genommen, im historischen Völkermordgeschehen während des Ersten Weltkriegs eher Armenier, zum Beispiel in ihren Kirchen, lebendig verbrannt wurden als später, während des Zweiten Weltkriegs, Juden, die in sogenannten Vernichtungslagern im besetzten Osten „fabrikmäßig“ ermordet wurden.

Als Gesamtopferzahl des Armenozid als der „ersten vollständigen ethnischen Säuberung dieses Jahrhunderts“ nennt der Genozidforscher Rudolph Rummel, der diese „düstere Wissenschaft“ staatlichen Terrors“ (Irving Louis Horowitz) unter quantitativ-zahlenmäßigen Vorzeichen von Opferstatistiken betreibt, als gemordete armenische Opfer der „genozidartigen Säuberungen der Türkei“ etwa 1.883, also nahezu 1.9 Millionen, Menschen.

„Erinnerungsarbeit“

Den historisch arbeitenden Sozialwissenschaftler, der über politiksoziologische Aspekte vergleichender Völkermordforschung theoretisch nachdenkt, empirisch forscht und wissenschaftlich publiziert, interessieren hier im Erinnerungskomplex weniger die (gewiss auch wichtige) ethische Dimension von Erinnerungsarbeit. Diese kann, auch im christlichen Sinn, Versöhnung bedeuten. Oder die Aufarbeitung wesentlicher Folgen einer Völkermord und Völkermordleugnung begünstigenden Kultur der Straflosigkeit („culture of impunity“). Hier geht es vielmehr um die – auch erinnerungsrelevante – Dimension möglicher Völkermordverhinderung / Genozidprävention mit Blick auf die nachhaltigen generationsbezogenen und biopolitischen Folgen des wirklichen Ereignisses Genozid. Dabei ist (wie schon beim Musa Dagh-Roman beispielhaft angesprochen) öffentliches Erinnern eine Kernaufgabe von Kunst im allgemeinen und besonders von Erzählkunst in Form von Romanen und Novellen, von Geschichten und Poemen.

„Papierarier“

Der Franz Werfel zugängliche Zusammenhang von Rassismus und einem „Völkermord, den die Jungtürken auf dem Gewissen haben“, ist auch deutschen „Armenierfreunden“ nicht verborgen geblieben. Als Christen hatten sie aus ihrer subjektiv empfundenen Mitschuld am Armenozid – dem Völkermord oder Genozid im Osmanischen Staat an den Armeniern als religiöser, ethnischer und politischer Minderheit während des Ersten Weltkriegs – zu lernen versucht: Der damals von Paul Rohrbach und Ewald Stier vertretene Vorstand der Deutsch-Armenischen Gesellschaft konnte mit Schreiben vom 31. Mai 1933 einen Erlass des Reichsinnenministeriums vom 3. Juli 1933 erwirken. Demnach sollten Armenier im Deutschen Reich entsprechend damaliger faschistischer Ideologie und wirksamer rassistischer Praxis nicht als „Semiten“ gelten, sondern als „Arier“. Die Kernaussage des an Stier gerichteten Schreibens vom „Sachverständigen für Rassenforschung beim Reichsminister des Innern“ [31.8.1933] lautete: „Im Sinne des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sind Armenier den Ariern zuzurechnen.“

„Juden des Orients“

In der deutsch(sprachig)en Literatur gab es sowohl ein ambivalentes Armenierbild als auch – und lange schon vor dem nationalsozialistischen Vernichtungsrassismus – die Clichévorstellung vom „Armenier“ als „Juden des Orients“.

Das Negativstereotyp vom Armenier propagierte ein bis heute weitverbreiteter deutscher Massenunterhalter. In seiner 1897 veröffentlichten Erzählung Der Kys-Kaptschiji trug Karl May das antiarmenische Stereotyp so vor:

„Ein Jude überlistet zehn Christen; ein Yankee betrügt fünfzig Juden; ein Armenier aber ist hundert Yankees; so sagt man, und ich habe gefunden, daß dies zwar übertrieben ausgedrückt ist, aber doch auf Wahrheit beruht. Man bereise den Orient mit offenen Augen, so wird man mir recht geben. Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtsnase eines Armeniers im Spiele. Wenn selbst der gewissenlose Grieche sich weigert, eine Schurkerei auszuführen, so findet sich ohne Zweifel ein Armenier, welcher bereit ist, den Sündenlohn zu verdienen.“

In Verbindung mit Hinweisen auf wirtschaftliche Vorherrschaft im Orient wurde das antiarmenische Cliché als rabiate Armenophobie in den 1920er Jahren von der jungtürkischen Ideologin Halíde Edíb Adivar (*1884 †1964), einer auch in Deutschland durch ihre Novelle Das neue Turan – ein Frauenschicksal (1916) und ihren Roman Das Flammenhemd (1924) bekanntgewordenen „Starautorin“, propagiert. Was freilich in ihren Büchern Memoirs (1926; ²1972) und The Turkish Ordeal (1928) nur als frühkemalistischer Antiarmenismus erscheint, war – und ist – nichts Anderes als menschen- und lebensfeindliche Ideologie in faschistischer Ausprägung.

„Vernichtungsrassismus“

Hitlers sowohl von böser Judenfeindschaft und panischer Bolschewistenfurcht als auch vom zeitgenössischen, pseudowissenschaftlich-darwinistischen Rassismus geprägtes Weltbild war weder gedanklich originell noch intellektuell entwickelt. Es war im Wesentlichen im Kern eine griffig-starkdeutsche Zusammenfassung des rechten – rechtsextrem(istisch)en – Zeitgeistes.

Als Vertreter einer vermeintlichen Herrenrasse widerkäute auch Hitler, als entschieden wurde, „wer auf dieser Welt leben und über ihre Ressourcen verfügen sollte“ und – so Gerhard Weinberg (1995) weiter – „welche Völker völlig ausgelöscht werden würden, weil die Sieger sie als minderwertig oder störend ansahen“, im Rahmen seiner sogenannten „Weltanschauung“ das eugenisch-rassistische Stereotyp von „den Armeniern“ und Armenien. Dies zeigen die wenigen von Hitler bei Tisch- und Lagegesprächen überlieferten antiarmenischen Äußerungen. Denen zufolge hat sich Hitler mehrfach über das „nichtarische Blut“ von Armeniern und sein daraus entwickeltes militärpolitisches Misstrauen gegenüber „den Armeniern“ geäußert.

Es bedarf keiner aufwändig-tiefenhermeneutischen Deutung, um zu erkennen: Auch der letzte deutsche Reichskanzler (und zugleich erster „mit Migrationshintergrund“) hatte die in Deutschland höchstverbreitete Clichévorstellung vom so gerissenen wie unzuverlässigen Armenier als „Juden des Orients“ verinnerlicht.

In Hitlers 1925/26 erstveröffentlichter zweibändiger personalpolitischer Kampfschrift „Mein Kampf“ finden sich keine Hinweise auf „die armenische Frage“, „die Armenier“ und Armenien.

Und doch ist Hitlers antiarmenisches Stereotyp über zwei Jahrzehnte überliefert: Ohne „Lösung der Judenfrage“ würde, so der deutsch-völkische Rassist Hitler 1922, das deutsche Volk ein „Volk wie die Armenier“. Und 1943 soll der faschistische Vernichtungsrassist Hitler in dem ihm eigenen „paranoiden Irrsinn“ betont haben: Wenn Völker „sich der Juden nicht erwehrten“, absänken sie so wie das „einst so stolze Volk der Perser, die jetzt als Armenier ein klägliches Dasein führten.“

Menschenfeindliche Verachtung der Armenier und mörderischer Hass auf die Juden einerseits – Bewunderung historischer Machtfiguren wie Dschingis Khan, Lob der Grausamkeit seiner Mongolenheere und türkischer Machtpolitiker des 20. Jahrhunderts wie Enver und Kemal andererseits – das war Hitlers rassistisch bestimmte machtpolitische Ideologie und die sich daraus ergebende mächtige ideologische Politik des nationalsozialistischen Vernichtungsrassismus.

„Furchtbare Wahrheit“

Die „furchtbare Wahrheit“ (Georg Glaser) des Zusammenhangs vom Völkermord an den Armeniern in der osmanischen Türkei während des Ersten Weltkriegs und der schon im Frühjahr 1933 beginnenden Judenverfolgung, die 1935 als eine der folgenden Stufen zum späteren Völkermord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs durch die „Nürnberger Rassengesetze“ formalisiert und legalisiert wurde, ist auch zeitgenössischen ausländischen Beobachtern nicht verborgen geblieben.

Den britischen „Commissioner for Migration and Statistics in Palestine“, Eric Mills, erinnerte die deutsche Rassengesetzgebung 1935, wie in einem Brief an seinen Dienstvorgesetzten ausgedrückt, an „the elimination of the Armenians from the Turkish Empire.“ Und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, im Februar 1939, bewertete der Exil-Vorstand der damaligen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE) die Judenverfolgung im ‚Dritten Reichs‘ im historischen Zusammenhang so:

„In Deutschland vollzieht sich gegenwärtig die unaufhaltsame Ausrottung einer Minderheit mit den brutalen Mitteln des Mordes, der Peinigung bis zum Wahnwitz, des Raubes, des Überfalls und der Aushungerung. Was den Armeniern während des Krieges in der Türkei geschah, wird im Dritten Reich langsamer und planmäßiger an den Juden verübt.“

„Genozid“

Was jahrzehntelang „murder of a nation“ (Völkermord) genannt wurde, hat der polnisch-US-amerikanische Völkerrechtler Raphael Lemkin (*1900 †1959) mit dem neuen Wort Genocide 1944 neu definiert:

„Mit ‚Genozid‘ ist die Vernichtung eines Volkes oder einer Volksgruppe gemeint […] Allgemein gesagt, meint Genozid nicht notwendigerweise die sofortige Vernichtung […], sondern soll vielmehr auf einen geordneten Plan verschiedener, aufeinander bezogener Maßnahmen verweisen. Diese zielen ab auf die Vernichtung wesentlicher Lebensgrundlagen von Volksgruppen. Sie sollen die Gruppe selbst zerstören. Zielvorstellungen eines solchen Plans wären Auflösung der politischen und sozialen Einrichtungen, der Kultur, der Sprache, der Nationalgefühle, der Religion und der wirtschaftlichen Existenzgrundlage von Volksgruppen sowie die Zerstörung von persönlicher Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar des Lebens der Menschen, die solchen Gruppen angehören. Genozid richtet sich gegen eine Volksgruppe in ihrer Gesamtheit. Die angewandten Maßnahmen betreffen Individuen nicht als einzelne Menschen, sondern als Mitglieder der Volksgruppe.“

Dabei ist nicht nur das kurzfristige Ziel der Kollektivmorde („annihilating the groups themselves“) und der ihnen unterliegende Vernichtungsplan entscheidend. Sondern, als genozidale Besonderheit, die langfristig-strategische und biopolitisch-intergenerative Wirksamkeit. Diesen Gesichtspunkt hat Lemkin (1944) selbst als über die Gegenwartsaktion(en) hinausweisenden Zukunftspfad definitorisch so herausgearbeitet:

„Genozid eine neue Machttechnik. Sie soll auch dann im Frieden wirksam werden, wenn der Krieg verloren ist.“

Das bedeutet: Wer auch immer den Krieg verliert, kann, biopolitisch, den (von Lemkin „Frieden“ genannten) Nachkrieg über Generationen andauernd gewinnen. Dies ist eine Dimension von Genozid, die Lemkin schon in den 1930er Jahren als Moment des Völkerrechts („ius gentium“) erkannte. Lemkins Hinweis ging nach dem Zweiten Weltkrieg auch ein in den im Dezember 1948 definierten Straftatbestand des internationalen Völkerrechts als UN-„Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens Völkermord“ (Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide; Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide).

„Holocaust vor dem Holocaust“

Was der jüdische Intellektuelle, US-amerikanische Autor und Friedensnobelpreisträger (1986) Elie Wiesel im Vorwort zur französischen Ausgabe von Franz Werfels Musa Dagh-Roman 1986 als „Holocaust vor dem Holocaust“ bezeichnete, wurde bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA erkannt: In seinem (zuerst 1946 jiddisch veröffentlichten) Aufsatz erinnerte der Publizist Joseph Guttmann 1948 nicht nur an die jungtürkische Völkermordpraxis während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Staat, sondern verglich auch beide Genozide hinsichtlich der jeweils angewandten Hauptmethoden. Guttmann kam zum analytischen Hauptergebnis, dass – idealtypisch – „der Armeniermord“ eher traditionelle Züge primitiven Massenabschlachtens aufwies, während „der Judenmord“ eher als hochorganisiertes industriell-fabrikmäßiges Massenmorden in Gaskammern auf ‚wissenschaftlicher‘ Grundlage vollzogen wurde.

Damit hat Joseph Guttmann bereits 1946 ein Augenmerk auf die destruktiv angewandten Formen gegenständlicher Produktivkraftentwicklung gelegt und die großindustriell unternommene Massenmordpraxis in den genozidalen Todesfabriken im während des Zweiten Weltkriegs militärisch besetzten Osten als qualitativ neue Einzigartigkeit der NS-Massenmord- und Vernichtungslager begriffen. Die massenhafte Vernichtungspraxis war keineswegs voraussetzungslos. Sie folgte vielmehr im Sinne eines Prozesses vorausgegangenen planvollen staatlichen Mordaktionen gegen (heute Sinti und Roma genannte) „Zigeuner“ und andere als „Asoziale“ oder angebliche „Ballastexistenzen“ oder „unnütze Esser“ 1939/41. Die im Herbst 1941 begonnene Vernichtungspraxis von Millionen Menschen der vorher als ‚objektiver Gegner‘ definierten sozialen Gruppe europäischer Juden überstieg damals das zeitgenössische Vorstellungsvermögen (auch) vieler Deutscher und bereitet (auch) heute noch vielen deutschen Zeitgeschichtlern erhebliche Probleme beim wissenschaftlichen Verstehen des Holocaust genannten Realereignisses Genozid.

„Einzigartigkeit“

Hannah Arendt (*1906 †1975), deren ‚Bibel des Antitotalitarismus‘ (1951) unter dem Titel Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zahlreiche deutsch(sprachig)e Ausgaben und Auflagen erfuhr, bemerkte in ihrem 1964 auch deutsch erschienenen Eichmannprozeß-Bericht von der Banalität des Bösen mit Blick auf Genozid als crimen magnum zum Großverbrechen Völkermord zutreffend: „Wenn ein spezifisches Verbrechen erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war.“

Dieser unter völkermordverhinderndem Gesichtspunkt oder genozidpräventivem Aspekt wissenschaftsrelevante Hinweis bewahrte die so reflexiv bedeutsame wie argumentativ wirksame politische Philosophin und Intellektuelle jedoch nicht vor ihrer nachhaltigen Ignoranz gegenüber dem ersten staatlich organisierten und geplanten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Dieser „Armeniermord“ wurde von Zeitgenossen als „Murder of a Nation“ und als „Vernichtung der armenischen Nation“ erkannt und bewertet. Er wird heute als Armenozid oder auch als „Turkish Genocide“ und „türkischer Völkermord“ an den Armeniern im Osmanischen Staat während des Ersten Weltkriegs (außerhalb der derzeitigen Türkischen Republik Türkiye Cumhuriyeti und ihres insularen Appendix Kuzey Kibris Türk Cumhuriyeti) weltweit staatlich geächtet: Zuerst von Senat und Repräsentantenhaus der Uruguay (20.04.1965), später unter anderen vom US-amerikanischen Repräsentantenhaus (09.04.1975), vom argentinischen Senat (05.05.1993), vom canadischen House of Commons (23.04.1996) und durch einstimmigen Beschluss des Bundestags auch von der Bundesrepublik Deutschland (vom 16.06.2005) anerkannt.

Hannah Arendt erinnerte in ihrem Eichmann-Buch 1964 anlässlich des politischen Attentats an den „Armenier Tindelian“ – sie konnte nur Սողոմոն Թեհլերեան (*1897 †1969; Soghomon Tehlirian, auch: Soromon Tehlerjan) gemeint haben -, „der 1921, mitten in Berlin, Taalat Bey erschoß, den berüchtigten Totschläger in den armenischen Pogromen von 1915, bei denen schätzungsweise ein Drittel (600.000) der armenischen Bevölkerung in der Türkei ermordet wurden“. Sie erinnerte auch daran, dass der Attentäter schon wenige Wochen später in einem aufsehenerregenden öffentlichen Gerichtsprozess freigesprochen wurde. Ihre Hinweise auf den Attentäter und auf die von ihr um etwa zwei Drittel verminderte Gesamtopferzahl der „ersten vollständigen ethnischen Säuberung dieses Jahrhunderts“ mit etwa 1.883 Millionen Menschen als gemordeten armenischen Opfern der „genozidartigen Säuberungen der Türkei“, zeigen ein erschütterndes Ausmaß an Nichtwissen und Unkenntnis. Sie verdeutlichen auch einen über alle Einzelheiten hinausgehenden Grundsachverhalt: Ohne historische Vergewisserung besteht immer die Gefahr selektiver Erinnerung in Form eines „ideologischen Gedächtnisses“ (una memoria ideológica) als Gegensatz zum Gedächtnis historischer Zeitzeugenschaft (una memoria histórica, testimonial) im Sinne von Jorgé Semprun (1977).

Dazu führte der Autor dieses Beitrags in seinem Habilitationsvortrag am 1. Februar 1989 zur intergenerativ-biopolitischen Wirksamkeit von Genozidpolitik aus:

„Entgegen der noch immer verbreiteten Behauptung von der Singularität des Völkermords an europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs ist einzigartig allein die dem Stand der gegenständlichen Produktivkraft entsprechende fabrikmäßig-industrielle Form des Massenmords durch Gas – vergleichbar hingegen bleibt neben der bereits von Raphael Lemkin erkannten Wirksamkeit von Genozidpolitik über Generationen betroffener Opfergruppen: daß über die Politik des Völkermords mit ihren unwiderruflichen Massenmordfolgen jeweils, im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg, die militärisch unterlegene Täterseite zum biopolitischen Sieger werden konnte. [… Es ist dies] die entscheidende destruktive Wirksamkeit der noch Generationen andauernden Wirkung von Genozidpolitik.“

„unique-uniquess“-Kritik

Die Singularitäts- oder Einzigartigkeitsthese sollte als „unique uniqueness“ so etwas sein wie ein Holocaust-„Alleinstellungsmerkmal“. Sie betraf jahrzehntelang auch das Verhältnis von „Armeniermord“ und „Judenmord“, von Armenozid und Holocaust, als zweier historischer Genozide in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Der Zeitgeschichtler, Politikberater und Publizist Klaus Hildebrand hat sie 1977 zusammenfassend formuliert und dabei nicht nur die Form genozidalen Mordens vor ihren Inhalt gestellt, sondern auch eine in Deutschland sowohl unter Ökonomen als auch unter Zeitgeschichtlern besonders verbreitete ideologische Variante – aus antimarxistischem Ressentiment gespeiste Theoriefeindlichkeit – offenbart:

„Das Entscheidende, das Singuläre der nationalsozialistischen Rassenpolitik aber lag eben in den über jede Funktionalität weit herausreichenden ‚Maßnahmen‘, um in der Sprache des Regimes zu bleiben, des Genocids, der ‚Züchtungsversuche‘ und des Euthanasieprogramms. Sie zu beschreiben und, wenn dies überhaupt jemals möglich sein sollte, begreifbar zu machen, kann sicherlich von keiner der allgemein ausgerichteten ‚Faschismus‘-Theorien erwartet werden.“

Die Wirksamkeit der zeitgeschichtlichen Einzigartigkeitsthese ging in Deutschland zeitweilig sogar soweit, sowohl wissenschaftlich-analytische Vergleiche zu tabuieren – damit letztlich auch vergleichende (Völkermord-) Forschungen zu verhindern – als auch Betroffenenhierarchien und, entsprechend der Wertigkeit: Holocaust – Armenozid, Völkermordopfer erster und zweiter Klasse zu schaffen.

Die sich auf den Holocaust beziehende Einzigartigkeitsthese ist nicht nur sprachlich unsinnig und historisch unzulässig: Genozid ist auch im Deutschen kein singulare tantum (als nur in der Einzahl verwendetes Hauptwort), sondern als Leitkategorie Oberbegriff verschiedener ‚moderner‘ geschichtlicher Völkermorde im 20. Jahrhundert und damit kein Holocaust-„Alleinstellungsmerkmal“. Die Singularitätsideologie ist darüber hinaus auch wissenschaftsfremd und forschungsblockierend: Wer nach dem Grundsatz definitio per genus proximum et differentiam specificam die Dialektik von Allgemeinem und Besonderen sucht, die Mühen der Ebenen nicht scheut und wissenschaftliches Wissen schaffen will, muss im Sinne jedes Wissenschaftsverständnisses erst einmal die Voraussetzungen schaffen, um Staatsverbrechen als Formen historischer Wirklichkeiten vergleichen zu können. Der Holocaust oder Shoah (seltener Judeozid) genannte Völkermord oder Genozid an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs im militärisch besetzten Osten war aber weder voraussetzungslos noch einzigartig. Die massenhafte Vernichtungspraxis angeblich „lebensunwerten Lebens“ folgte vielmehr im Sinne eines Prozesses vorausgegangenen planvollen staatlichen Mordaktionen:

„Zwangssterilisation, Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Kinder in Krankenhäusern, Tötung erwachsener Anstaltsinsassen durch Gas in medizinischen Tötungszentren (Euthanasie), Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Insassen von Konzentrationslagern und schließlich die Massenmorde an den Juden.“

Einzigartig war nicht der 1941-1945 „staatlich organisierte Völkermord“ an sich und als solcher. Singulär waren vielmehr die destruktiv angewandten Formen gegenständlicher Produktivkraftentwicklung und die staatsbürokratische Organisation zur großindustriell unternommener Massenmordpraxis in den genozidalen Todesfabriken im während des Zweiten Weltkriegs militärisch besetzten Osten als qualitativ neue Momente nationalsozialistischer Massenmord- und Völkermordpolitik.

„Genozidtheorie“

Micha Brumlik, damals Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main, hat 2004 versucht, den geschichtlichen Ort des „jungtürkischen Massenmords an den Armeniern“ unter völkermordtheoretischen Aspekten genauer zu bestimmen. Brumlik anerkannte das, was „zunächst lediglich als eines in der Reihe der vielen Massaker galt, die Osmanische Herrscher immer wieder an ihren armenischen Untertanen begangen haben, bis heute zum Paradigma dessen werden [sollte], was als ‚Genozid‘ gilt, weshalb es sowohl für die gesamteuropäische als auch für die globale Entwicklung einer historisch sensiblen Gedenkkultur von höchster Bedeutung ist, daß die kemalistische Türkei […] diesen Genozid bis heute nicht anerkannt und – mehr noch – all jene, die ihn national und international anerkennen, unterschiedlich sanktioniert. In der Auseinandersetzung um den jungtürkischen Genozid an den Armeniern lassen sich bis heute sämtliche Probleme und Konfliktfelder, die mit dem Begriff [Genozid] verbunden sind, identifizieren: die Frage nämlich, ob ein derartiges geplantes Verbrechen überhaupt nachweisbar ist – sowohl was seinen Umfang als auch was die unterstellte genozidale Intentionalität betrifft.“

Brumlik arbeitete weiter heraus, dass es einerseits eine „kausale Rolle des Krieges für Genozide aller Art“ gibt, dass Genozid andererseits als besondere Form des Massenmords nicht im allgemeinen des Kriegsereignisses mit seinen Massenschlächtereien („mass slaughter“; „wartime atrocities“) aufzulösen ist, dass jedem Völkermorden eine täterentlastende rassistische Ideologie als neues „Muster von Inklusion und Exklusion“ – also Einbezug und Ausgrenzung – unterliegt und dass jede sozialwissenschaftliche Theorie des Völkermord(en)s auch zur „Systematik der Genozidverhütung“ beizutragen hat. Zugleich erkannte der Autor, dass in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung jahrzehntelang als einzigartig und singulär erschien, was in Wirklichkeit als „Judenmord“ (Holocaust, Shoah, seltener Judeozid) in Form des „totalitären Antisemitismus“historischer deutscher Sonderweg war.

So gesehen lesen sich Brumliks Hinweise wie eine späte Anerkennung der 1980 von Irving Horowitz vertretenen These zur Praxis des totalitären Antisemitismus als staatlichem Vernichtungsrassismus: „Genozid gibt es als nationale Politik überall auf der Welt – der Holocaust hingegen war eine besondere und nur von den Nazis angewandte Praxis zur Ermordung einer Gesamtbevölkerung.“

Ausblick

Es mag so (gewesen) sein, dass die 1941/42 begonnene großindustrielle Vernichtungspraxis von Millionen Menschen der vorher als ‚objektiver Gegner‘ definierten sozialen Großgruppe europäischer Juden damals das zeitgenössische Vorstellungsvermögen (auch) vieler Deutscher überstieg und (auch) heute noch vielen deutschen Zeitgeschichtlern erhebliche moralische und intellektuelle Probleme beim wissenschaftlichen Verstehen des Holocaust genannten Realereignisses Genozid bereitet.

Die gleichwohl vertretene Ideologie der Singularität oder Einzigartigkeit war – und ist – nicht gut, sondern schlecht. Sie negiert auch erste Ergebnisse einer verhältnismäßig jungen Forschungsperspektive: der comparative genocidal research oder international vergleichenden Völkermordforschung. Ihr geht es auch darum, den elenden Status rivalisierender Genozidbetroffenen- und -opfergruppen der Kollektivmorde zu überwinden. Denn dieser ist überwindbar und wird auch zunehmend überwunden. Und das ist auch nur gut so. Denn – um einen Hinweis Hannah Arendts aufzunehmen – wenn Vergangenheitserfahrung als Zukunftsaufgabe im Sinne von Völkermordverhinderung und Genozidprävention verstanden und wie beim US-amerikanischen Genozidforscher Irving Louis Horowitz (1976) als „saving-lives“-policy – Politik des Leben-Rettens – auf universale und unteilbare Menschenrechte bezogen wird – dann gibt es, so Hannah Arendt (1949) – in letzter Konsequenz nur ein „einziges Menschenrecht“: Das unveräußerliche „Recht, Rechte zu haben“ und als das in der Bundesrepublik Deutschland anerkannte Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Leben ist, mit Hannah Arendt, der materielle Kern des Menschenrechts, Rechte zu haben. Oder, mit Heinrich Heine, der in seinem Textfragment über verschiedenartige Geschichtsauffassungen (1832/34) das Leben selbst als Recht – auch auf revolutionäre Prozesse – erkannte: „Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht.“

Anhang

Entwicklung eines Frühwarnsystems gegen Völkermordtendenzen. Eine Pilotstudie zu einem unbearbeiteten Grundproblem einer kultur-, sozial- und politikwissenschaftlichen Friedensforschung.

Das hiermit beantragte Forschungsprojekt soll den von mir in Form von ‚gratiser Privatarbeit‘ in den letzten Jahren aufgearbeiteten Pfad der internationalen fortschrittlichen Forschungsliteratur weitergehen und versuchen, das, was bisher nur eingefordert ist, in Form eines systematischen Konzepts einzulösen.

Ein Frühwarnsystem gegen Völkermordtendenzen soll aus vergleichender Sicht aus historischen Völkermordprozessen – vor allem der Völkermordpolitik des jungtürkischen Regimes und des nationalsozialistischen Faschismus – entwickelt werden und, bevor diese besondere und besonders destruktive Form von Ausrottungs-, Massenmord- und Vernichtungspolitik wirksam werden kann, wesentliche Elemente eines Völkermordsystems identifizieren (wie ich es schon versucht habe am Beispiel der politischen Ideologie des ‚objektiven Gegners‘ im Anschluss an Hannah Arendt). Es geht damit um einen interdisziplinären Zugriffsversuch zunächst auf ein Milieu, in dem sich Völkermordtendenzen entwickeln können („genocidal milieux“), bevor diese als Völkermordprozesse gesellschaftlich dominant und politisch wirksam werden können und dann eine Völkermordgesellschaft („genocidal society“) konstituieren.

Meine Kernthese: bevor Völkermordpolitik als besondere Form eines Menschheits- und Staatsverbrechens exekutiert wird, muss es im gesellschaftlichen Milieu und besonders in der sozialmoralischen Verfasstheit einer Gesellschaft schon Hinweise auf diese politisch-historisch destruktivsten Prozesse als (wenn auch zunächst verborgene) Tendenzen geben. Diese dürften sich heute – in entwickelten Industriegesellschaften – vor allem in Gestalt von militanten/gewaltsamen Rücknahmeversuchen zivilisatorisch-kultureller Errungenschaften zeigen und den bürokratischen Staatsapparat politisch zur Auflösung eines an sich möglichen humanen Grundconsens einer Gesellschaft instrumentalisieren/vernutzen (und insofern technokratisch-instrumentell werden: darauf haben nicht zuletzt G. Anders und R. Jungk aufmerksam gemacht …) Diese Tendenzen können – müssen aber nicht – populistisch daherkommen und/oder plebiszitär ‚von unten‘ abgestützt werden.

Ein entscheidendes Moment – scheint mir bei meinem derzeitigen Kenntnisstand – der Durchsetzung dieser Völkermordtendenzen ist nicht diese oder jene Einzelheit (Ethnozentrismus, Rassismus etc.), sondern ein tiefgreifender sozialmoralischer Enttabuierungsprozess auf der Grundlage von Auflösungserscheinungen, die wiederum wirtschaftlich, sozial, kulturell und ideologisch auf Ungleichheit(en) beruhen.

Hier nun gilt es, endlich ein Frühwarnsystem, das diesen Namen verdient, zu entwickeln, damit Völkermordtendenzen und Völkermordprozesse eingehender identifiziert und bereits im Vorfeld späterer staatlich beförderter Destruktions- und Vernichtungspolitik – damit auch: vor von entsprechenden sozialen Trägergruppen und Völkermordprofiteuren organisierter politischer Wirksamkeit durch staatliches Handeln – aktiv verhindert werden können – weil diese besondere Politik des Völkermords als Mittel der Politik und politischen Handelns überhaupt verhindert werden muss.

Als Antragsteller und Bearbeiter dieses Pilotprojekts habe ich in doppelter Weise vor-gearbeitet – ohne dafür bisher aus öffentlichen Mitteln unterstützt worden zu sein: erstens habe ich inzwischen den internationalen Forschungsstand, insbesondere der Diskussion in den USA und Israel, so systematisch aufgearbeitet wie kritisch kommentiert (eine erweiterte Druckfassung meines Habilitationsvortrags [1.2.1989] befindet sich im Druck, cf. Sociologia Internationalis, 1/1989). Zweitens habe ich 1982-1986 mein Konzept des Zugangs zur ‚versteckten Gesellschaft‘ am Beispiel einer politischen Soziologie von Witzen zu erproben versucht (mein Sammelband mit den entsprechenden Beiträgen erscheint dieserwochen). Und darüber hinaus habe ich als individueller Forscher durch meine beiden letzten großen Bücher 1987 und 1988 bewiesen, dass ich bereit und in der Lage bin, neue Themenstellungen und Sichtweisen produktiv zu entwickeln.

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