Von vielen werden Computerspiele noch immer nicht ernst genommen. Dabei sind sie mittlerweile ein milliardenschweres Geschäft. Und während PC und Playstation zu Spielplätzen von Kunst und Philosophie avancieren, durchdringt die Gamifizierung unseren Alltag.
Von Dominik Erhard
Es beginnt mit einer Katastrophe. Flugzeugabsturz über dem Atlantik. Vorbei an brennenden Wrackteilen rettet man sich als einziger Überlebender in einen verlassenen Leuchtturm, an dessen Eingang ein Banner mit der Aufschrift prangt: „Keine Götter oder Könige, nur Menschen!“ Das Spiel, das mit gedämpftem Summen in der Konsole rotiert, heißt „BioShock“. Wo ist man hier nur hineingeraten? Doch keine Zeit für Fragen, denn mittels einer Tauchkugel geht es direkt weiter nach Rapture, einer Unterwasserstadt im Stil des Art déco.
Es ist kein Zufall, dass der Name des fiktiven Gründers von Rapture, Andrew Ryan, der die Stadt als urbane Utopie entwarf, wie jener der berühmt-berüchtigten Vordenkerin des Libertarismus Ayn Rand klingt. Deren philosophischer Roman „Der ewige Quell“, so verriet einer der leitenden Entwickler, stellte eine wichtige Inspiration für „BioShock“ dar. Das zeigt sich besonders an der Unterwasserstadt Rapture. Ein radikal deregulierter Kapitalismus, so wie ihn Ayn Rand stets predigte, sollte die Metropole zu Wohlstand und Freiheit führen. Doch das Gegenteil geschah. Tritt der Spieler aus der Tauchkugel, sieht er Elend und Verfall. Gebäude sind heruntergekommen, die Bewohner von genveränderten Substanzen deformiert.
Was als kleine philosophische Anspielung beginnt, mündet bald in ein moralisches Dilemma erster Güte. Man trifft auf die „Little Sisters“, zombieartige Mädchen mit leeren Augen, die die Unterwasserstadt nach ADAM, einem Rohstoff für Genveränderungen, absuchen. Hat man deren monströse Beschützer, die „Big Daddys“, im zähen Kampf besiegt, steht man vor der Frage, ob man die schutzlosen Kreaturen nun töten oder verschonen soll. Entscheidet man sich für Ersteres, sackt man das von ihnen gesammelte ADAM ein und optimiert die eigenen Lebenskräfte. Lässt man von ihnen ab, wird einem hingegen von der Off-Stimme versichert, das moralisch Richtige getan zu haben.
Was also tun in dieser postapokalyptischen Welt? Sind die eigenen Kräfte, die womöglich noch zur Errettung vieler anderer Leben gebraucht werden, wichtiger als die prekäre Existenz eines Monsters in Mädchengestalt? Können moralische Grundimpulse die spielinterne Logik des Tötens überwinden? Liegt die Pointe letztlich vielleicht sogar darin, dass man durch das Morden de facto selbst zum Monster wird?
Computerspiele zählen heute zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen unserer Zeit. Knapp 47 Prozent der deutschen Jugendlichen spielen jeden oder fast jeden Tag, wobei der digitale Spieltrieb im Erwachsenenalter keineswegs nachlässt. Das Durchschnittsalter der hierzulande rund 34 Millionen Menschen, die regelmäßig auf PC, Konsole, Tablet oder Smartphone zocken, beträgt 35 Jahre. Dass die mit über 350 000 Besuchern größte Computerspielmesse der Welt, die Gamescom in Köln, jüngst von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet wurde, zeigt zudem, dass die Spieleindustrie mit ihren doch 11 000 Beschäftigten mittlerweile auch politisch ernst genommen wird. Vor diesem Hintergrund scheint es denn auch wenig verwunderlich, dass Computerspiele à la „BioShock“ intellektuell immer anspruchsvoller werden. Denn grundsätzlich ist es zwar keineswegs neu, dass diese implizit auch ethische Fragen aufwerfen. Man denke etwa an die 1997 gestartete Spielreihe „Grand Theft Auto“, in der man in die Rolle eines Auftragskriminellen schlüpft, welche einen immer wieder vor moralische Dilemmata stellt. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass Gamedesigner immer häufiger explizit philosophische Ansätze nutzen. In dem vom Künstler David O’Reilley entwickelten Spiel „Everything“, wo man von der atomaren Ebene bis zur sphärischen Totalansicht zoomen kann, wird etwa die Phänomenologie praktisch erfahrbar. In dem von Davey Wreden entwickelten „Stanley Parable“ ist man wiederum mit der Frage nach der Existenz des freien Willens konfrontiert. Als Angestellter, der sich eines Morgens im völlig verwaisten Großraumbüro wiederfindet, macht man sich auf, das Mysterium um die eigene Einsamkeit zu ergründen. Der Clou dabei: Der Off-Stimme, die beispielsweise Anweisungen gibt, durch welche Tür man gehen soll, muss man nicht gehorchen. Ganz gleich wie man sich entscheidet, ob man den Instruktionen folgt oder die Revolte wagt, das Spiel hält immer entsprechende Optionen bereit.
Avancieren PC und Playstation also buchstäblich zu Spielplätzen praktischer Philosophie? Werden sie im 21. Jahrhundert vielleicht sogar zu jenem veritablen Bildungsmedium, das der Roman für das 19. und der Film für das 20. Jahrhundert war? Oder wäre es am Ende doch genau andersherum? Sind Computerspiele und der mit ihnen verbundene Trend zur Gamifizierung des Alltags vielmehr das Ende des freien Spiels und der selbstbestimmten Reifung?
Werden Compterspiele zu dem Bildungsmedium, das der Roman für das 19. und der Film für das 20. Jahrhundert war?
Lob des reinen Tuns
Vielleicht muss man diese Frage grundlegender angehen. Historisch gesehen war die These vom Bildungswert des Spielens stets Konjunkturen unterworfen. Galt es im Mittelalter meist nur als kindisches Treiben, erfuhr es im Zuge der Aufklärung, etwa durch Friedrich Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, eine Aufwertung zur unverzichtbaren Voraussetzung der freien Persönlichkeitsentwicklung. Heißt es in Schillers Sentenz: Der „Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, galt das Spiel nun als integraler Bestandteil des humanistischen Bildungsgedankens.
Der Kulturhistoriker Johan Huizinga ging sogar noch einen Schritt weiter. In seinem Werk „Homo ludens“ von 1938 begreift er das Spiel als Quelle von Kreativität und Flexibilität, Selbstständigkeit und Selbstvertrauen. Denn das Individuum entwickle seine Eigenschaften vor allem aus der Freude an dem reinen Tun, das sich selbst belohnt und keiner Außenbestätigung bedarf. „Der Mensch“, so Huizinga, „braucht das Spiel als elementare Form der Sinn-Findung.“
Bezog sich dieses Lob des Spielens auf Sport-, Brett- oder Gedankenspiele, auf Literatur und Kunst, lässt es sich heute auch auf die neuen digitalen Formen anwenden. Zumal Computerspiele im Gegensatz zu linearen Medien über das Merkmal der Interaktivität verfügen. Mögen sie in erzählerischer Hinsicht zwar noch nicht mit Flauberts „L’Éducation sentimentale“ oder Goethes „Wahlverwandtschaften“ mithalten, so werden sie doch narrativ immer komplexer. Dennoch: Computerspiele haben nach wie vor ein Imageproblem.
Jeffrey Wimmer, Professor für Kommunikationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Medienrealität an der Universität Augsburg, erklärt im Gespräch, dass es das Los aller neuen Medien sei, sich zunächst mit einer gewissen Randständigkeit begnügen zu müssen. Es brauche Zeit, bis sich das Neue behaupten könne. „Im Gegensatz zu Filmen und dem Theater, die längst etabliert sind, muss sich das Computerspiel seinen gesellschaftlichen Stellenwert erst erkämpfen“, meint Wimmer. Man könne die Phase, in der sich Computerspiele befänden, gut mit den Anfängen der Oper vergleichen, die zunächst als seichtes Unterhaltungsmedium galt. Stück für Stück sei ihr jedoch mehr Aufmerksamkeit zuteilgeworden, bis sie schließlich in die Hochkultur einwanderte.
Damit Computerspiele eine ähnliche Karriere hinlegen, reiche es jedoch nicht aus, diese einfach, wie im Jahr 2008 durch den Deutschen Kulturrat geschehen, zum Kulturgut zu erklären. Laut Wimmer müsse man noch mehr politische Initiativen zur Förderung besserer Inhalte ins Leben rufen. Die Entwicklung des Mediums dürfe nicht nur dem marktwirtschaftlichen Kalkül der großen Spieleentwickler überlassen werden. „Diese großen Konzerne achten im übertragenen Sinne nicht auf Vitamine und Fair Trade“, konstatiert Wimmer. „Im Moment ist das einfach eine riesige Fast-Food-Industrie. Es gibt gute Sachen, die spielen aber leider nur sehr wenige, weil die große Masse lediglich den Müll sieht, der auf schnellen Profit und kurze Lebenszeiten aus ist.“
Zumal Computerspiele gerade auf Kinder, die über reguläre Lernmaßnahmen nur schwer zu erreichen sind, einen besonders positiven Einf luss ausüben können, da sie politische und ethische Fragestellungen auf informelle Weise aufwerfen und so einen spielerischen Ref lexionsprozess initiieren. „Computerspiele können echte Lernmaschinen sein“, sagt der Kommunikationswissenschaftler. „Gerade wenn ich nicht merke, dass ich lerne, ist der Lerneffekt besonders groß.“
Ob sich tatsächlich ein erkenntnistheoretischer Mehrwert einstellt, liegt aber zunächst an der Qualität des Spiels. Denn es stimmt natürlich: So wie auch nur ein kleiner Prozentsatz von Romanen oder Filmen über bloße Unterhaltung hinausgeht, gibt es auch unzählige Computerspiele, die lediglich der kurzweiligen, mitunter auch dumpfen Zerstreuung dienen. Dass es aber selbst im Bereich der Mobile Games, also der Spiele, die man auf dem Smartphone spielt, anders geht, zeigt beispielsweise „Brothers: A Tale of Two Sons“. Das Besondere an dem Smartphone-Spiel: Mit seinen beiden Daumen steuert man jeweils einen der zwei Brüder und navigiert diese so durch verschiedenste Hindernisse und Rätsel. Wenn gegen Ende des Spiels einer der beiden Brüder stirbt, geschieht etwas Faszinierendes. Der Verlust wird nicht nur über die Geschichte vermittelt, sondern überträgt sich auf den Körper des Spielers, da ein Daumen nun plötzlich ohne Funktion bleibt. Wo man zuvor alle Hürden nur im geschickten Zusammenspiel der beiden Geschwister – sprich: der beiden Daumen – meistern konnte, fehlt plötzlich etwas, diesseits und jenseits des Bildschirms. Das Spiel schreibt sich buchstäblich in den Leib des Spielers ein.