In Rostock tagt derzeit das höchste Gremium der deutschen Wissenschaftslandschaft. Der Wissenschaftsrat ist illuster besetzt: mit Professorinnen und Professoren für die unterschiedlichsten Fächer, Pflege- und Hebammenwissenschaft, Werkstoffmechanik, Geschichte, Agrarhandel und so weiter. Die verschiedenen Fächer scheinen oberflächlich wenig miteinander zu tun zu haben. Wir wissen aber auch, dass nicht alles eine Wissenschaft sein kann – Homöopathie oder Astrologie zum Beispiel sind keine, das ist mittlerweile gehobenes Allgemeinwissen. Doch was ist das Kriterium? Vielleicht ist dies ein Anlass, einmal darüber nachzudenken, was eine Wissenschaft genau auszeichnet (eine der Aufgaben der Wissenschaftstheorie, einer eigenen philosophischen Disziplin).
Schon in der Grundschule kann man lernen, dass Wissenschaft mit Experimenten zu tun hat. Man macht Versuchsreihen, erhält Ergebnisse und versucht, Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Zumindest die Naturwissenschaften scheint das erst einmal ganz gut abzudecken. Allerdings wird es schon bei den Geowissenschaften schwierig, da es dort nicht möglich ist, beliebige Versuche mit dem beforschten Gegenstand durchzuführen – aus dem Erdkern lassen sich etwa keine Proben entnehmen, und man kann keine Gebirge testweise auffalten. In der Astronomie, die die historisch älteste exakte Wissenschaft ist und bis heute für viele den Modellfall darstellt, gibt es an den allermeisten Objekten überhaupt keine Experimente, weil sie schlicht außer Reichweite sind. Wir können keinen Versuch machen, bei dem wir Steine in 100 verschiedene Fixsterne fallen lassen. Die Astronomie ist weitgehend auf Beobachtungen von unkontrollierten Vorgängen angewiesen; aber immerhin gibt es etwas zu beobachten.
Wir können keinen Versuch machen, bei dem wir Steine in 100 verschiedene Fixsterne fallen lassen
Je weiter man sich von den Naturwissenschaften entfernt, desto schwieriger wird es. Während in der Psychologie noch fleißig experimentiert wird (sofern es nicht aus ethischen Gründen verboten ist wie zum Beispiel Deprivationsexperimente mit Babys), sind kontrollierte soziologische Experimente größeren Maßstabs schon fast unmöglich. Spätestens auf der Ebene der Politik- und Wirtschaftswissenschaften erfordert bereits das Beschreiben von Beobachtungen die Anwendung komplexer Begrifflichkeiten, in denen so viele Vorannahmen stecken, dass sie ihren Anwendern nie vollständig präsent sind. Oft sind die beobachteten Gegenstände auch so speziell, dass man keine größeren Vergleichsreihen aufbauen kann: Über das deutsch-französische Verhältnis seit 1789 kann man keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten herausfinden, indem man es mit anderen Exemplaren vergleicht, weil es kein anderes Staatenpaar gibt, das genau dieses Verhältnis hat.
Zeugnisse der Vergangenheit aufarbeiten
Hinzu kommt wie bei allen Fächern, die sich mit der Entwicklung bestimmter Einzelgegenstände seit längerer Zeit beschäftigen (Geschichtswissenschaft, aber auch Paläontologie oder Kosmologie gehören dazu), die Problematik, dass wir keine Zeitmaschinen haben und nur begrenzt Zeitreihen durch direkte Beobachtung aufstellen können. Daher müssen irgendwie überlieferte Zeugnisse der Vergangenheit aufgearbeitet werden, die wieder ihre ganz eigenen Probleme mitbringen.
Und als wäre das noch nicht genug, gibt es Fächer wie Mathematik, Logik und theoretische Informatik, die überhaupt nicht auf Experimenten oder Beobachtungen aufbauen. Es gab daher einmal eine einflussreiche wissenschaftstheoretische Richtung, den so genannten Logischen Positivismus, der davon ausging, dass es zwei strikt getrennte Quellen wissenschaftlicher Wahrheit gibt: Beobachtung und »reines« logisches Denken. Leider lässt sich aber zeigen, dass selbst bei den simpelsten Beobachtungen immer schon Voraussetzungen gemacht werden, die ihrerseits nicht auf Beobachtungen beruhen.
Wie so oft ist es daher nicht verwunderlich, dass die Diskussion darüber, was eine Wissenschaft eigentlich ausmacht, alles andere als abgeschlossen ist. In der Philosophie ist man sich insbesondere auch darüber uneins, ob das eigene Fach im strengen Sinn wissenschaftlich ist. Die Merkmale eines Wissenschaftsbetriebs sind zwar da, Philosophie ist lehrbar, lernbar, systematisch organisiert und zur Selbstkritik fähig, aber wenn man zum Beispiel erwartet, dass es eine kontrollierte allgemeine Anwendbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse geben muss, wird die Luft dünn. Das gilt jedoch für viele Gebiete der reinen Mathematik, und das ist vermutlich einer der (zahlreichen) Gründe, warum sich Mathematikerinnen und Philosophen einander traditionell eng verbunden fühlen.