Daniel Kahneman und Amos Tversky entwickeln Prospect-Theorie
Die althergebrachte, sogenannte Erwartungsnutzen-Theorie kannte in der Wirtschaft zuvor nur den vollständig logisch denkenden Rationalen Agenten, eben den „Homo oeconomicus“ oder auch „Nutzenmaximierer“. Dieses geheimnisvolle Wesen, das stets nur und mit absoluter Vernunft seinen Vorteil sucht, haben Daniel Kahneman und Amos Tversky mit ihrer Prospect-Theorie entzaubert. Dafür warfen sie einen ganz frischen Blick auf den erwarteten Gewinn oder Nutzen, auf Englisch den „prospect“.
Verlustaversion: Was man hat, das hat man
In Spiel-Experimenten mit vielen Versuchspersonen zeigte sich: Menschen richten sich manchmal nicht nach der Mathematik. Im Durchschnitt sind sie etwas weniger bereit, Risiken einzugehen, wenn sie vorhandenes Vermögen verlieren könnten. Kahneman und Tversky hatten eine kognitive Verzerrung entdeckt, und die nannten sie „Verlustaversion“. Was man hat, das hat man und will es nicht wieder hergeben. Das ist nicht vereinbar mit dem rationalen Agenten, aber mit gesundem Menschenverstand.
Heuristiken sind verzerrte Wahrnehmungen und führen zu Fehlern
Kahneman und Tversky fanden noch viele weitere Verzerrungen, im Englischen „biases“, die oft das Ergebnis von Heuristiken sind. Heuristiken, so nennt man eingeübte Gedankengänge, um sich schnell zu entscheiden, ohne erst lange nachdenken zu müssen. Zum Beispiel: „In welche Aktie soll ich investieren? Alle setzen gerade auf das Unternehmen soundso. Also mache ich das auch.“
Heuristiken kennen kein Grübeln. Sie laufen fast vollständig automatisch ab. Doch es hat Folgen, wenn wir Entscheidungen aufgrund verzerrter Wahrnehmungen treffen. Da eine Heuristik nicht alle verfügbaren Informationen, sondern nur Teile davon verwendet, führt sie unvermeidlich zu Fehlern.
Kahneman vergleicht schnelles und langsames Denken
Daniel Kahneman teilt sein Wissen mit Laien, und zwar in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“, das 2012 auf Deutsch erschienen ist, ein Jahr nach der englischen Originalausgabe. Darin erklärt er auch seine Idee, Menschen würden in zwei Systemen denken: Im System 1 geht es schnell und recht mühelos, eben mit Heuristiken. Und im System 2 geschieht das Nachdenken langsam und anstrengend.
Im Jahr 2002, als Daniel Kahneman für die Prospect-Theorie den Nobelpreis erhielt, war er 68 Jahre alt und hatte schon einen langen Lebensweg hinter sich. Seine jüdischen Eltern waren in den 1920er-Jahren aus Litauen nach Frankreich ausgewandert. Die Mutter brachte ihn am 5. März 1934 in Tel Aviv zur Welt, bei einem Verwandtenbesuch im damaligen Britischen Mandat Palästina.
Begegnung mit SS-Mann prägt Daniel Kahneman als Kind
Als deutsche Truppen Frankreich besetzten, wurde es lebensgefährlich für die Familie Kahneman. Eines Abends, 1941 oder 1942, vergaß der kleine Danny auf dem Heimweg die Ausgangssperre für Juden. Die Mutter hatte ihn beschworen, sich vor deutschen Soldaten zu hüten, vor allem vor denen mit den schwarzen Uniformen. Und genau solch einen sah Kahneman auf sich zukommen. Schnell noch zog er seinen Pullover auf links, ließ so den gelben Davidstern verschwinden. Und was machte der SS-Mann? Hob ihn empor, umarmte ihn, zeigte ihm ein Foto wohl des eigenen Sohns, schenkte Danny etwas Geld und ließ ihn ziehen. Kahneman schildert, wie sehr ihn dieses Erlebnis geprägt hat, auch in seiner Entscheidung, Psychologe zu werden.
Amos Tversky: vom Widersacher zum Kollegen und Freund
Später als Professor an der Hebräischen Universität trifft Kahneman Amos Tversky wieder, dem er schon 1957 einmal begegnet war, damals dem zackigen Fallschirmjäger Tversky. An der Universität waren sie zunächst Widersacher, bis sie dann wichtige Partner wurden auf dem Weg zur Prospect-Theorie, für die Kahneman später den Nobelpreis erhalten sollten.
1974 erschien der Aufsehen erregende Fachartikel von Tversky und Kahneman mit dem wegweisenden Titel „Prospect Theory: „Judgment under Uncertainty“ – übersetzt „Urteilen unter Unsicherheit“.
Auf eine weitere Professur in Berkeley folgte schließlich 1993 der Wechsel an die Universität Princeton, wo Kahneman bis zur Emeritierung 2007 forschte und lehrte. Seit diesem Umzug ist das nahe New York City sein Zuhause. Über alle Ortswechsel hinweg blieb die enge Zusammenarbeit mit Amos Tversky, der längst auch in den USA angekommen war. Dessen Tod 1996 war ein riesiger Verlust für Daniel Kahneman.
Glücksforschung während betäubungsloser Darmspiegelung
Kahneman wäre nicht Kahneman, wenn er nicht auch Ideen entwickelt hätte, was Lebensglück eigentlich ausmacht. In den frühen 1990er-Jahren war er auch ein führender Psychologe in der Glücksforschung. Unter anderem arbeitete er mit Versuchspersonen, die eine Darmspiegelung durchmachten – eine damals noch betäubungslose und deshalb sehr schmerzhafte Prozedur. Während der Behandlung wurden die Patienten alle sechzig Sekunden gefragt, wie stark die Schmerzen jetzt gerade, in diesem Augenblick waren.
Nach der Untersuchung gaben die Geplagten an, wie stark die Schmerzen insgesamt waren. Dabei stellte sich heraus: Für ihre Einschätzung war es völlig unerheblich, wie viel Schmerz sie erlitten hatten. Alles, was im Rückblick zählte, war die Erinnerung an den Schmerz ganz am Anfang und am Ende der Darmspiegelung. Kahneman zieht eine Unterscheidung zwischen dem erfahrenden Selbst und dem Selbst, welche die Erinnerung an die Erfahrung bewertet.
Lebenszufriedenheit zählt mehr als der glückliche Augenblick
Bis dahin hatte Kahneman angenommen, Lebensglück hätte viel damit zu tun, was Menschen gerade im Moment glücklich macht. Also ob sie häufig an einem schönen Strand in der Sonne Urlaub machten, ein schickes Auto fuhren oder oft besonders lecker aßen. Was er stattdessen herausfand, ließ ihn seine Glücksforschung beenden.
Er erkannte in seiner Forschung, dass Menschen Lebenszufriedenheit wollen. Es zählt nicht so sehr der glückliche Augenblick, sondern sie wollen vor allem eine gute Erzählung von ihrem Leben.
Bei Entscheidungen nicht der Intuition vertrauen, sondern objektiven Fakten
Bei all dem Reichtum seines Werks fällt es Kahneman aber leicht, die allerwichtigste Erkenntnis aus seinem Forschungsleben zu benennen, auch für den ganz normalen Alltag. Für ihn ist die wichtigste Lehre aus seiner Arbeit, dass Leute nicht ihrer Intuition vertrauen sollten. Denn subjektive Zuversicht ist keine Garantie auf Genauigkeit.
In seinem Fazit rät er zu einem ganz anderen Umgang mit wichtigen Entscheidungen. Er rät, es langsam angehen zu lassen und nach den objektiven Fakten zu suchen. Auch und gerade sich selbst traut Kahneman nicht so, also wüsste er endgültige Wahrheiten. So ist er seinem Wahlspruch stets treu geblieben auf einer langen und noch längst nicht abgeschlossenen Suche nach Erklärungen, warum Menschen denn nur so kompliziert sein können.
SWR 2020