Nicht nur in der Politik werden Expertenmeinungen einfach ignoriert. Warum? Welche Rolle spielt die Gruppe? Und was hilft bei Beratungsresistenz? Antworten gibt der Psychologe Thomas Schultze-Gerlach von der Universität Göttingen im Interview.
»Beratungsresistenz ist ein höchst stabiler Befund, man findet sie in allen Ländern, in denen man Studien dazu durchgeführt hat«, sagt der Psychologe Thomas Schultze-Gerlach. Seine Forschung an der Universität Göttingen zeigt: Mehr noch als Einzelpersonen tendieren Gruppen dazu, Rat weniger zu beherzigen, weil sie von ihrem gemeinsamen Urteil überzeugter sind – unabhängig davon, ob sie tatsächlich besser Bescheid wissen. Gemeinsam mit Kollegen stellte der Psychologe fest: Selbst wenn sie nur zu zweit sind, befolgen Menschen Rat von Dritten seltener als allein. Im Interview erklärt er, was hinter der Beratungsresistenz steckt.
»Spektrum.de«: Angenommen, eine Gruppe von Politikern lässt sich von Fachleuten beraten, wie eine schwierige Lage am besten zu meistern ist. Was kann bei einer solchen Beratung schiefgehen?
Thomas Schultze-Gerlach: Die Frage ist erst mal, welche Interessen neben der eigentlichen Lösungssuche noch im Spiel sind, etwa von Interessengruppen, die gar nicht mit am Tisch sitzen. Doch nehmen wir einmal an, es geht nur um die Lösungssuche selbst. Dann müssen Politiker dennoch an die Machbarkeit denken. Für den besten Vorschlag könnte die politische Mehrheit fehlen, oder es sind unerwünschte Nebeneffekte zu erwarten. Dann wird die Idee verworfen, auch wenn sie eigentlich gut ist. Im Idealfall bekommt das Beratergremium etwaige Einschränkungen vorab mitgeteilt und kann sie bei der Lösungssuche einbeziehen. Ein kritischer Punkt ist schließlich noch, die Beschlüsse nach außen stimmig zu kommunizieren.
»Im schlimmsten Fall gibt es eine Person, die die Gruppe führt, und der Rest stimmt immer zu«
Und wenn es allein darum geht, den besten Rat überhaupt zu erkennen: Was steht dem entgegen?
Es kommt darauf an, wie die Gruppe zusammengesetzt ist. Erstens könnten Personen dabei sein, die sich für besonders schlau halten oder sich nicht gerne etwas sagen lassen. Dann wird die Gruppe als Ganzes ebenfalls weniger empfänglich sein für Ratschläge. Das ist das größte Hindernis.
Das Problem hinter der Beratungsresistenz wäre dann also gar nicht die Gruppe.
Genau. Ein zweites Hindernis ist aber spezifisch für Gruppen: geteilte Fehlüberzeugungen. Stellen Sie sich vor, zehn Personen sind sich relativ einig, wie man mit einem Problem umgehen sollte. Doch sie haben alle eine ähnliche Fehlinformation gelesen. So entsteht ein falsches Sicherheitsgefühl. Der Konsens ist weniger wert, als wenn sie sich auf verschiedene Informationen stützen. Je mehr von ihnen unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis kommen, desto sicherer kann man sich sein, dass es gut ist. Die Unabhängigkeit ist auch gefährdet, wenn einer eine Idee äußert, die anderen das plausibel finden und gar nicht mehr selbst nachdenken. Im schlimmsten Fall gibt es eine Person, die die Gruppe führt, und der Rest stimmt immer zu.
Wie kann man das verhindern?
Indem die Führungsperson glaubhaft macht, dass Widerspruch gefragt ist. Die Gruppenforschung zeigt: Der Schlüssel zu guten Entscheidungen ist Dissens in der Gruppe. Entweder stellt man die Gruppe gezielt aus Menschen zusammen, die unterschiedliche Sichtweisen haben. Oder man erklärt jemanden zum »Advocatus Diaboli«, zum Anwalt des Teufels. Er muss die Ideen kritisch auseinandernehmen, also eine Gegenposition übernehmen. Dann ist ein Machtgefälle in der Gruppe gar kein Problem.
Wird das in der Praxis angewendet?
Ja, das ist eine verbreitete Technik, um Gruppendenken vorzubeugen. Der Begriff kommt aus der katholischen Kirche: Wenn die Kurie jemanden heiligsprechen wollte, wurde einer der ihren zum »Advocatus Diaboli« auserkoren und musste die Gegenrede führen.
Die Rolle von Konsens in der Gruppe
Ist sich eine Gruppe schon vorher einig, lässt sie sich von einem anders lautenden Rat weniger beeinflussen als eine Einzelperson. Das schließen Thomas Schultze-Gerlach und seine Kollegen Stefan Schulz-Hardt und Andreas Mojzisch aus Experimenten mit 300 Zweiergruppen und knapp 200 Einzelpersonen. Die Psychologen hatten ihnen Fragen zum Allgemeinwissen gestellt, etwa nach der Einwohnerzahl von Hamburg. Waren sich die Teammitglieder zunächst uneins, berücksichtigten sie den Rat hingegen stärker als eine einzelne Person.
Kommt es auch auf die Größe der Gruppe an?
Ja. Wir beobachten, dass schon Zweierteams denselben Rat weniger stark berücksichtigen als eine Person allein. Und wenn wir die Gruppen größer machen, dann sinkt der Einfluss weiter. Die größte Gruppe, die wir bisher untersucht haben, umfasste allerdings sechs Leute. Bei 10, 50, 100 Personen könnte es also irgendwo eine Grenze geben, wo der Einfluss nicht weiter sinkt.
Könnte man mit einer ebenso großen Gruppe an Ratgebern ein Gegengewicht bilden?
Das wissen wir nicht. In unseren eigenen Studien haben wir keinen Unterschied gefunden, wenn der Rat von zwei Personen statt von einer kam. Das kann jedoch auch daran liegen, dass der Versuchsaufbau die Zahl der Ratgeber nicht sonderlich betonte. Eine Arbeit von Albert Mannes zeigte, dass die Menge der Ratgeber einen Einfluss hatte. Das halte ich auch für wahrscheinlich und plausibel, unter anderem aus Erfahrungen mit Online-Rezensionen: Wir finden es überzeugender, wenn 1000 Leute ein Produkt gut bewerten, als wenn es nur wenige tun.
Ganz allgemein betrachtet: Was hat in Laborexperimenten den größten Einfluss darauf, ob wir Rat annehmen?
Es gibt zwei ähnlich starke Faktoren: für wie gut hält man das eigene Urteil und für wie gut den Rat. Wenn ich sicher bin, dass ich Recht habe, nimmt der Einfluss des Rats ab; bin ich mir unsicher, nimmt er zu. Und wenn ich überzeugt bin, dass der Rat nicht besonders gut ist, ignoriere ich ihn eher; halte ich ihn für gut, werde ich mich anpassen. Das ist ein vernünftiges Verhalten.
»Problematisch wird es dann, wenn ich entweder den Rat oder mein eigenes Urteil falsch einschätze«
Und trotzdem nutzen wir Rat nicht immer so, wie es vernünftig wäre?
Problematisch wird es dann, wenn ich entweder den Rat oder mein eigenes Urteil falsch einschätze. Die meisten halten sich im Vergleich zum Durchschnitt für etwas kompetenter. Dann ergibt es für sie subjektiv Sinn, einen Rat nicht so stark zu nutzen, auch wenn sie eigentlich davon profitieren könnten. Diese Beratungsresistenz ist ein höchst stabiler Befund, man findet sie in allen Ländern.
Menschen zeigen sich also deshalb beratungsresistent, weil sie ihre Meinung fälschlicherweise für besser halten als den Rat, den sie bekommen? Oder gibt es noch andere Gründe?
Die Forschung beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Beratungsresistenz, aber es ist noch immer nicht klar, was da alles hineinspielt. Wir prüfen gerade die Arbeitshypothese, dass es auch um das Bedürfnis nach Autonomie geht. Vor allem, wenn ich einen Rat bekomme, den ich nicht aktiv eingeholt habe. Dann reagiere ich abwehrend und ignoriere ihn oder berücksichtige ihn nur so wenig, dass ich mir sagen kann, die Entscheidung unterm Strich doch selbst getroffen zu haben. Oder ich erkenne an, dass der Rat eigentlich gut ist, sage aber, dass ich meine eigenen Fehler machen will.
Wie können Berater dafür sorgen, dass sie trotz allem gehört werden?
Es gibt drei gesicherte Strategien und eine mögliche vierte. Die erste Strategie: Interessenkonflikte offenlegen. Dazu gibt es Studien von meiner Kollegin Sunita Sah von der University of Cambridge. Sie hat gezeigt: Wenn der Berater selbst sagt, dass auch er von seinem Rat profitiert, gewichten die Entscheidungsträger den Rat höher und nicht etwa geringer, wie es angemessen wäre. Bekommt ein Versicherungsberater für höhere Beträge mehr Provision, dann sollte man weniger investieren, als er empfiehlt.
Und die anderen Strategien?
Die zweite ist, den Rat im Brustton der Überzeugung vorzutragen, denn das wird als Hinweis auf Kompetenz bewertet. Lyn Van Swol von der University of Wisconsin-Madison und Bahador Bahrami von der LMU München haben das unabhängig voneinander nachgewiesen. Die dritte Strategie: sehr präzise Ratschläge zu erteilen, zum Beispiel monatlich 102,73 Euro zu investieren. David Loschelder von der Universität Lüneburg und ich haben das in einer Studie getestet: Die Präzision erweckt den Eindruck, dass der Rat besser ist – da scheint jemand so gut zu sein oder sich so viele Gedanken gemacht zu haben, dass er die Zahl präzise berechnen kann. Und eine mögliche weitere Strategie leitet sich aus der Hypothese des bedrohten Autonomiegefühls ab. Ich würde davon ausgehen, dass Rat besser ankommt, wenn mindestens zwei Optionen zur Wahl stehen. Auch wenn eine davon bewusst schlechter ist, entsteht das Gefühl, eine eigene Wahl treffen zu können.
Welche Rolle spielt dabei die Person des Ratgebers selbst?
Expertise und Vertrauenswürdigkeit – also gute Absichten – sind die wichtigsten Faktoren. Man sucht außerdem häufiger Rat bei Mitgliedern der eigenen Gruppe. Zumindest im Labor hat es aber keinen Einfluss, ob ein Rat von einer Person der eigenen oder einer fremden Gruppe kommt. Allerdings wird die Gruppenzugehörigkeit sehr einfach hergestellt, etwa über vermeintliche gemeinsame Vorlieben. In der Realität dürfte das anders aussehen, man stelle sich einmal vor, Grünen-Wählern einen Ratschlag von AFD-Wählern vorzulegen.
»Man muss sich die passenden Ratgeber aussuchen: Personen, die einem Gutes wollen, aber eine ganz andere Sicht auf die Welt haben«
Woraus kann man schließen, ob ein Rat gut ist?
Valide Hinweise sind so etwas wie Berufserfahrung, Reputation oder vergangene Leistungen der Ratgeber. Doch selbst ohne solche Anhaltspunkte können wir die Qualität von Rat grob einschätzen. Man kann zwar nicht zwischen sehr gutem, gutem und mittelgutem Rat unterscheiden. Aber einen sehr schlechten Rat erkennt man auch ohne Expertise, in der Regel daran, dass er sehr unplausibel ist. Was man nicht als Qualitätsmerkmal ansehen sollte, sind die Kosten. Wenn man den Ratgeber bezahlt, folgt man seinem Rat öfter, nach dem Motto: Was teuer ist, muss gut sein. Das trifft allerdings nicht immer zu.
Wie kann man denn dann dafür sorgen, dass man guten Rat bekommt?
Man muss sich die passenden Ratgeber aussuchen: Personen, die einem Gutes wollen, aber eine ganz andere Sicht auf die Welt haben. Vorher sollte man sich fragen, was ein Rat überhaupt leisten soll: die bestmögliche Entscheidung liefern? Oder soll er mir die Unsicherheit nehmen, wenn ich bereits eine Idee habe, wie ich mich entscheiden will? Dann frage ich besser Leute, die mir ähnlich sind, deren Meinung also gar nicht unabhängig ist von meiner und die vielleicht dieselben Urteilsfehler machen. Mit großer Wahrscheinlichkeit sagen sie, dass sie es genauso machen würden. Dann kann ich gut schlafen, und ob es eine andere Variante gibt, mit der ich besser gefahren wäre, werde ich in den meisten Fällen nie erfahren.
Das kommt auf die Art der Entscheidung an. Bei Geldanlagen etwa will man doch keinen unkritischen Ratgeber, sonst ist am Ende das Geld weg.
Genau, da gibt es hartes Feedback. In so einer Situation brauche ich jemanden, der mir wohlgesinnt ist und der über andere Informationen verfügt als ich selbst, um eine unabhängige Meinung zu bekommen und meine Urteilsfehler auszugleichen. Aber das ist leichter gesagt als getan, denn dafür müsste ich die Urteilsfehler kennen, und das ist meist nicht der Fall. Gerade unsere eigenen Urteilsfehler können wir schwer erkennen.
Am einfachsten wäre es, ganz viele Leute zu fragen.
Man spricht hier von »wisdom of the crowd«, der Weisheit der Vielen. In den meisten Fällen ist das Ergebnis gut, etwa bei Fragen wie der, wie viele Kilometer ein Ort von einem anderen entfernt ist. Doch bei manchen Fragen teilen die Leute eine Fehlüberzeugung. Dann gewinnt man womöglich nichts, allerdings verliert man auch nichts. Es gibt Arbeiten, die zeigen, dass Rat von drei bis sechs Personen genügt, um das Potenzial auszuschöpfen. Mehr als sechs bringen demnach nicht so viel zusätzlich, dass sich der Mehraufwand lohnen würde.
Unterscheiden sich Männer und Frauen darin, wie sie mit Rat umgehen?
Wir finden nur selten Unterschiede. Und wenn, dann gibt es eine einfache Erklärung. Zum Beispiel waren Männer beratungsresistenter, wenn sie Distanzen schätzen sollten. Sie waren sich in ihrem Urteil sicherer als Frauen – ihre Urteile waren aber gar nicht besser. Geht es um Kalorien in Nahrungsmitteln, sind Frauen beratungsresistenter. Dahinter stecken Geschlechterstereotype. Außerhalb vom Labor, vor allem im Beruf, können die Geschlechterunterschiede jedoch größer ausfallen. Männer werden für Nachgiebigkeit bestraft, Frauen für forsches Auftreten. Also kann es sein, dass Frauen, die so wenig Rat annehmen wie ihre männlichen Kollegen, als beratungsresistenter wahrgenommen werden. Dazu kenne ich aber keine Forschung.
Woran forschen Sie selbst derzeit?
Wir untersuchen, wie sich unterschiedlich große Gruppen an Ratschlägen orientieren. Sofern wir die Drittmittel dafür bekommen, wollen wir das ausweiten auf die Frage, welche Rolle die Gruppengröße der Ratgeber dabei spielt. Ein weiterer Fokus soll künftig auf so genannten normativen Einflüssen liegen, also wann wir einem Rat folgen, um jemandem zu gefallen oder ihn nicht zu verärgern. Im wahren Leben kann das einen starken Einfluss haben, aber auch im Labor nutzen Versuchspersonen Ratschläge mehr, wenn sie wissen, dass der Ratgeber davon erfährt. Das ist vernünftig, denn Menschen reagieren sehr verschnupft, wenn man ihre Ratschläge regelmäßig ignoriert. Deshalb sollte man einen Rat auch mal nutzen, wenn er nicht so gut erscheint – sonst steht diese soziale Ressource womöglich bald nicht mehr zur Verfügung.
Verhalten wir uns auch so, wenn der Rat von jemandem kommt, den wir vermutlich nie wiedersehen werden?
Ja, die soziale Komponente hat selbst unter Fremden großen Einfluss. Als ich im Ausland mal nach dem Weg gefragt habe, schickte mich jemand in eine Richtung, die ganz sicher falsch war. Aber ich habe gewartet, bis die Person weg war, erst dann bin ich woanders lang.
»Alles, was der eigenen Meinung widerspricht, wird auf Herz und Nieren geprüft, und alles, was ihr entspricht, wird unkritisch für gut befunden«
Hat Ihre Forschung Ihr eigenes Verhalten verändert?
Ich glaube schon. Ich versuche, anderen Meinungen toleranter zu begegnen. Wenn man eine Idee hat und die gut findet und jemand anders sieht das nicht so, dann geht man normalerweise in eine Abwehrhaltung. Alles, was der eigenen Meinung widerspricht, wird auf Herz und Nieren geprüft, und alles, was ihr entspricht, wird unkritisch für gut befunden. Wir nennen das präferenzkonsistente Informationsbewertung. Ich habe mir deshalb antrainiert, mehr zuzuhören. Wie gut mir das tatsächlich gelingt, sollten aber besser andere Leute beurteilen.
In welchen Fragen entscheiden Sie lieber allein?
In Geschmacksfragen, also zum Beispiel, welche Bücher ich lese. In manchen Dingen braucht man keinen Rat. Man kennt die eigenen Bedürfnisse so gut, da bleibt nicht viel Spielraum.