Laut Kriminologen wird Polizeigewalt in Deutschland nur lückenhaft erfasst. Vermutlich auch weil nur wenige Fälle zur Anzeige kommen und unklar ist, was rechtlich erlaubt ist.
Wie hart Polizistinnen und Polizisten in Deutschland vorgehen sollten, zeigte Ende April 2023 die Debatte um so genannte Schmerzgriffe. Auslöser war das Video eines Polizeieinsatzes: Bei einem Klimaprotest der Letzten Generation forderte ein Polizist einen Demonstranten auf, von der Straße aufzustehen und den Ort zu verlassen – sonst werde er ihm Schmerzen zufügen. Kurz darauf packen zwei Beamte den Aktivisten, der mit Schmerz verzerrtem Gesicht und sich windend fortgeschleppt wird. War das Vorgehen gerechtfertigt?
Solchen Fragen gingen der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt und seine Kolleginnen nach. Ein Fazit des Forschungsprojekts: Singelnstein beklagt Lücken bei der Erfassung von Polizeigewalt in Deutschland. In anderen Ländern werde hingegen transparent statistisch erfasst, wie häufig und in welcher Form die Polizei Gewalt ausübe oder wie häufig Menschen im Kontext von Polizeieinsätzen zu Tode kamen, sagte Singelnstein der Deutschen Presse-Agentur. »So eine Datenbasis, so eine statistische Erfassung wäre schon mal ein erster wichtiger Schritt.« Der Jurist hat mit seinem Team nun ein Buch über das Thema vorgelegt.
»Ganz überwiegend bleibt übermäßige Gewalt durch Polizeibeamte ohne strafrechtliche Folgen«, lautet ein Ergebnis des Forschungsprojekts. Bei den mehr als 3300 Befragten sei eine niedrige Anzeigebereitschaft festzustellen gewesen. »Ein Großteil der Verdachtsfälle rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendungen bleibt dadurch im Dunkelfeld. Nur 14 Prozent der von uns befragten Betroffenen gab an, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe«, sagte Singelnstein.
Doch auch dort, wo es zur Anzeige komme, stellten die Staatsanwaltschaften mehr als 90 Prozent der Fälle ein. Nur in etwa 2 Prozent der Fälle wird der Untersuchung zufolge Anzeige erhoben. In den Verfahren stehe zudem oft Aussage gegen Aussage. Überdies komme hinzu, dass viele Polizisten auf Grund häufiger Aussagen bei Prozessen »gerichtserfahren« seien, es für sie aber auch eine Herausforderung darstelle, Kollegen zu belasten. Zudem: Weil die Polizei mit der Staatsanwaltschaft alltäglich zusammenarbeitet, könnte es für die Justizbehörde schwierig sein, unvoreingenommen zu agieren. Singelnstein und sein Team hatten dahingehend neben den Betroffenen mehr als 60 Polizeibeamte sowie Juristen verschiedener Bereiche befragt.
Wer vor allem von übermäßiger Polizeigewalt betroffen ist
Den Frankfurter Forschenden fiel zudem auf, dass es zu übermäßigem Einsatz polizeilicher Gewalt vor allem bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspielen käme, daneben auch bei Personenkontrollen. Am häufigsten betroffen sind offenbar junge Männer und »marginalisierte Personen«, erklärt Singelnstein laut einer Pressemitteilung.
Der Fachmann merkte überdies an, dass in den Gesetzen nicht explizit stehe, welche »einfache körperliche Gewalt« Polizisten erlaubt sei. »Aktuell wird sehr intensiv über Schmerzgriffe diskutiert und man sieht, dass die verschiedenen Polizeien in den verschiedenen Ländern da unterschiedliche Linien haben«, nannte der Wissenschaftler ein Beispiel. »Manche sagen, wir wenden gar keine Schmerzgriffe an, andere haben das sehr stark in die Praxis übernommen.« Rechtlich sei es zudem sehr umstritten, ob derartige Praktiken überhaupt zulässig sind.
Zwar hat die Polizei auf Grund ihrer Aufgaben ein Gewaltmonopol – doch auch die Beamten dürften Gewalt »nur ausnahmsweise einsetzen« sagte Singelnstein. »Auf der anderen Seite sehen wir, dass es innerhalb der Polizei eine gewisse Normalisierung der Gewalt gibt, weil es für die Beamten zu ihrem beruflichen Alltag gehört.«
Ein »strukturelles Problem mit Gewaltanwendung in der Polizei« gäbe es allerdings nicht, sagte der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt gegenüber der »Süddeutschen Zeitung«. »Unmittelbarer Zwang« sei rechtmäßig und »gelegentlich unumgänglich«, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft wurden. (dpa/kas)