© MIRIAM LUCIAÑEZ-TRIVIÑO; CINTAS-PEÑA, M. ET AL.: AMELOGENIN PEPTIDE ANALYSES REVEAL FEMALE LEADERSHIP IN COPPER AGE IBERIA (C. 2900–2650 BC). SCIENTIFIC REPORTS 13, 2023, FIG. 5 / CC BY 4.0 CC BY (AUSSCHNITT)
Führten vor fast 5000 Jahren Frauen die Gemeinschaften auf der Iberischen Halbinsel an? Eine neue Analyse an den Überresten aus einem bedeutenden Grab legen diesen Schluss nahe.
Von der ägyptischen Königin Hatschepsut bis zu Queen Victoria – es gibt genug historische Belege dafür, dass in der Vergangenheit auch Frauen die höchsten Ämter eines Landes bekleideten. Bei prähistorischen Kulturen, die keine Schriften hinterlassen haben, fällt es jedoch deutlich schwerer, die Existenz von Herrscherinnen oder Anführerinnen nachzuweisen. Als sicherstes Indiz galt lange Zeit, was jenen Menschen ins Grab gegeben wurde. Lagen neben den Knochen massenweise kunstvolle Artefakte und darunter Waffen, dann war klar: Es war ein Mann und womöglich fürstliche Prominenz. Doch inzwischen gibt es bessere Methoden, um das Geschlecht menschlicher Überreste zu bestimmen – vor allem, wenn Knochen für anatomische oder genetische Analysen zu stark zerfallen sind.
Mit Hilfe einer solchen Methode wurde nun aus einem Mann, den seine Gemeinschaft vor rund 5000 Jahren mit dem größten materiellen Pomp begraben hatte, eine Frau. Wie die Funde nahelegen, war die Verstorbene offenbar gesellschaftlich hoch gestellt. Und sie war vielleicht nicht die einzige Frau, die in jener Gemeinschaft der iberischen Kupferzeit eine führende Rolle übernommen hatte.
Ein Team um Marta Cintas‑Peña und Leonardo García Sanjuán von der Universität Sevilla nutzte dafür die Mittel der Forensik, genauer gesagt die Amelogenin-Analyse. Wie die Forschergruppe im Fachblatt »Scientific Reports«schreibt, analysierte sie zwei Zähne der verstorbenen Person, deren Grabstätte Archäologen 2008 am Fundplatz Valencina de la Concepción unweit der Stadt Sevilla frei gelegt hatten. Dort, im Südwesten Spaniens, entdeckten die Ausgräber die größte bislang bekannte Siedlung der Kupferzeit (Chalkolithikum) auf der Iberischen Halbinsel, also aus der Zeit zwischen 3200 und 2500 v. Chr.
Anders als in den übrigen Gräbern von Valencina, die man im Chalkolithikum immer wieder geöffnet und darin weitere Verstorbene beigesetzt hatte, war besagtes Grab eine Einzelbestattung, angefüllt mit speziellen Beigaben: zwei Stoßzähnen afrikanischer Elefanten, fast zwei dutzend Feuersteinklingen – eine davon mit einem Griffknauf aus Bernstein – und vielen Objekten aus Elfenbein. Einige Zeit nach der Beisetzung legte man weitere Gegenstände in das Grab, die nicht weniger wertvoll waren: einen Dolch aus Bergkristall mit einem Griff und einer Scheide aus Elfenbein, mehr als 50 Feuersteinmesser, zahlreiche Kleinigkeiten aus Elfenbein sowie ein Straußenei. »Es scheint kaum Zweifel daran zu bestehen, dass der in der Struktur (…) bestattete erwachsene Mann zur aufstrebenden Elite der chalkolithischen Gesellschaft (…) gehörte«, schrieben die Ausgräber in einem Aufsatz aus dem Jahr 2019. »Dieses Individuum (…) war in der Lage, Ressourcen für den Bau eines großen megalithischen Grabes zu mobilisieren, (…) das eine beträchtliche Menge an exotischen Dingen beherbergt.« Mit so vielen Beigaben aus Elfenbein war der Tote ein regelrechter »Ivory Man«, ein Elfenbeinmann.
Eine anatomische Untersuchung aus dem Jahr 2013 hatte ergeben, dass es sich bei dem Toten um einen jungen Mann im Alter zwischen 17 und 25 Jahren handelte. Womöglich. Denn für eine sichere Geschlechtsbestimmung seien die Knochen laut García Sanjuán und seinem Team zu schlecht erhalten. Deshalb führte die Arbeitsgruppe eine Amelogenin-Analyse durch. Das Ergebnis: Es sollte ab sofort von einer »Ivory Lady« die Rede sein.
Der Toten auf den Zahn gefühlt
Die Forschenden nahmen dafür eine Probe von einem Zahn der Toten und untersuchten sie mittels der so genannten Flüssigchromatografie mit Massenspektrometrie-Kopplung. Mit dieser Methode wollten sie die für den Zahnschmelz typischen Peptide (Moleküle) des Proteins Amelogenin auslesen. Entscheidend ist dabei, welche Form jener Peptide das Gerät detektiert. Denn das Ergebnis fällt bei Zähnen von Männern anders aus als bei solchen von Frauen. Der Grund: Die Gensequenzen, die das Protein Amelogenin codieren, unterscheiden sich je nach Geschlecht in der Länge. Auf dem X-Chromosom ist der Genabschnitt um sechs Basenpaare kürzer als auf dem Y-Chromosom. Taucht bei der Analyse also kein Nachweis für das Peptid des Y-Chromosoms auf, war der Mensch eine Frau. Gehen sowohl »Amel X«- als auch »Amel Y«-Peptide ins Netz der Chemiker, handelt es sich um einen Mann.
Cintas‑Peña und García Sanjuán ließen zunächst einen Schneidezahn von Koautor Fabian Kanz, Forensiker an der Medizinischen Universität Wien, analysieren. Doch im Ergebnis zeichneten sich nicht genügend Peptide ab. Daher wiederholte Kanz die Untersuchung mit einer Probe eines Backenzahns. Danach stand fest: Die Probe wirft nur Amel X-Peptide ab. Mit einer Wahrscheinlichkeit, die der einer forensischen DNA-Analyse entspreche, sei das Ergebnis »zu nahezu 100 Prozent« sicher, sagt Kanz auf Anfrage von »Spektrum.de«. Die sterblichen Überreste aus Valencina stammen demnach von einer Frau.
Wenn das Probenmaterial älteren Datums sei, erklärt Nicolas Stewart, Chemiker an der University of Brighton, kann es passieren, dass das Massenspektrometer keine eindeutigen Ergebnisse liefert. Stewart ist Experte für Amelogenin-Analysen, unter anderem an archäologischen Überresten; an der neuen Studie war er nicht beteiligt. Um eine zweifelsfreie Aussage treffen zu können, sei es daher wichtig, genügend Peptide aus einer Probe extrahieren zu können. Auch sei zu beachten, »dass Amel Y zehnmal weniger exprimiert wird als Amel X«, so der Chemiker. Bei der Analyse würden dann auch deutlich stärkere Signale für dieses Peptid angezeigt werden als für Amel Y.
Dem Ergebnis von Cintas‑Peñas, García Sanjuáns und Kanz’ Untersuchung stimmt Stewart zu. »Ich würde [die Probe ebenfalls] getrost als weiblich einordnen.« In dieselbe Kerbe schlägt der Experte Ivan Mikšík von der tschechischen Universität Pardubice, der nicht an der aktuellen Studie mitgearbeitet hat. »Grundsätzlich liefert [die Amelogenin-Analyse] eine hohe Übereinstimmung zwischen der proteomischen [proteinanalytischen] und genetischen Bestimmung des Geschlechts«, erklärt Mikšík. Auch er hält das Fazit, dass vor rund 5000 Jahren kein Mann, sondern eine »Ivory Lady« in Valencina begraben wurde, für korrekt.
Frauen an der Spitze der Gesellschaft
Dass Frauen in den iberischen Gemeinschaften der Kupferzeit bedeutende Rollen einnahmen, legt ein weiterer Befund aus Valencina nahe. Unweit des Grabes entdeckten die Archäologen eine monumentale Anlage, die sie Montelirio Tholos nannten – als Tholoi werden allgemein runde Bauten bezeichnet. Darin waren zwei oder drei Generationen nach der »Ivory Lady« 25 Menschen beigesetzt worden, ebenfalls mit ähnlich wertigen Beigaben. Knochenanalysen ergaben, dass 15 Tote recht sicher Frauen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren waren – die offenbar in Verbindung mit der »Ivory Lady« standen: Als sie starben, hatte man der Elfenbeindame weitere Beigaben ins Grab gebracht.
Zudem: Angesichts der Fundsituation dürfte die »Ivory Lady« eine der mächtigsten Personen der Zeit zwischen 3200 und 2500 v. Chr. auf der gesamten Iberischen Halbinsel gewesen sein – Hinweise auf vergleichbar bedeutende Männer würden hingegen fehlen, schreibt die Arbeitsgruppe um García Sanjuán. Am nächsten stünden ihr die Frauen aus der Montelirio Tholos. »Das legt nahe, dass [damals] Frauen Führungspositionen innehatten«, schreiben die Forscherinnen und Forscher in »Scientific Reports«.
Wie gelangten diese Frauen an die Spitze ihrer Gemeinschaften? Auch dazu haben Cintas‑Peña und García Sanjuán eine Theorie. Weil sich in den Gräbern von Kleinkindern in Valencina keine Beigaben fanden, wäre der soziale Status der Menschen nicht per Geburt festgelegt gewesen. Die »Ivory Lady« hätte sich folglich ihre Stellung »durch Verdienst und persönliche Leistung« erarbeitet. Aus archäologischen Kulturen ist allerdings bekannt, dass Babys und Kleinkinder bisweilen auf andere Weise bestattet wurden als Erwachsene. Es lässt sich daher nicht ausschließen, dass die iberischen Chalkolithiker für Kinderbestattungen eigenen Sitten anhingen – solche, die womöglich vorschrieben, den Babys keine Beigaben ins Grab zu legen. Aus derartigen Indizien die Karriere eines Menschen vor fast 5000 Jahren abzuleiten, ist daher zumindest zweifelhaft.
Sicher ist: Die »Ivory Lady« war in der Region, in der sie begraben wurde, auch aufgewachsen. Das ergaben Isotopenanalysen. Zudem steckten in ihren Knochen große Mengen Quecksilber. Der Ursprung dürfte Zinnober gewesen sein. Im Grab lag das quecksilberhaltige Mineral, das als Cinnabarit bekannt ist. Die Messwerte legen nahe, dass die Person wohl schon zu Lebzeiten den tiefroten Farbstoff auf den Körper aufgetragen, inhaliert oder verspeist hatte. Womöglich nutzte sie den Stoff bei einem Ritus oder er diente als Körperbemalung. Denkbar ist dabei, dass auch das Cinnabarit einen hohen gesellschaftlichen Status markierte.
Ähnlich wie im Fall von Valencina halfen naturwissenschaftliche Untersuchungen bereits in der Vergangenheit, das Geschlecht Verstorbener zu bestimmen. So deuteten Fachleute lange Zeit ein wikingerzeitliches Waffengrab in Birka, Schweden, als letzte Ruhestätte eines hochrangigen Kriegers. Im Jahr 2017 ergab dann eine Genanalyse, dass es sich bei der Toten um eine Frau, also eine Kriegerin gehandelt hatte.