Das Jahr 1923, erklärte der Zentrumspolitiker und frischgebackene Reichskanzler Wilhelm Marx, werde »wohl nicht mit goldenen Lettern in die Geschichte des deutschen Volkes eingetragen«. Das war keine Vorahnung, sondern eine Bilanz. Marx sagte das, als das Jahr bereits vorbei war. Ein Jahr, das die Deutschen in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gebracht hatte: Terroranschläge, Putschversuche, Ruhrbesetzung, ein Erstarken der Kommunisten und Nationalsozialisten mit jeweiligen Ambitionen, die Macht an sich zu reißen, und dazu noch eine Hyperinflation. Vor 100 Jahren stand Deutschland am Abgrund.
Dass 1923 sich so entwickelte, wurzelte im verlorenen Ersten Weltkrieg, an dessen Ende der deutsche Staat mit einem enormen Schuldenberg dastand. Schließlich hatte Deutschland anfangs gar nicht über genügend Geld für einen Krieg verfügt, der deshalb mit Anleihen finanziert worden war. Obendrein präsentierten die Siegermächte im Mai 1921 eine satte Rechnung: Reparationszahlungen in Höhe von 132 Milliarden Goldmark. Eine Welle der Empörung schwappte durch das Land – dabei war der Aufruhr wegen des Versailler Vertrags, den Deutschland am 28. Juni 1919 hatte unterzeichnen müssen, noch lange nicht abgeebbt.
Die Situation bestärkte das rechtsextreme Terrornetzwerk in Deutschland: die Organisation Consul, bestehend aus jungen Männern, die die Niederlage im Ersten Weltkrieg radikalisiert hatte. Sie wollten die »Schmach« des »Schandvertrags von Versailles« rächen. Die Schuld sahen sie bei deutschen »Erfüllungspolitikern«, auf die sie zur Hetzjagd bliesen.
Ihr erstes Opfer war Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der als Bevollmächtigter der Reichsregierung im November 1918 seine Unterschrift unter das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne gesetzt hatte. Die rechtsterroristischen Attentäter ermordeten ihn im August 1921. Anfang Juni 1922 nahmen sie dann den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann ins Visier, der am 9. November 1918 die Republik ausgerufen hatte. Er kam dank des Dilettantismus der Attentäter mit dem Leben davon. Nun richtete die Organisation Consul ihren Blick auf Außenminister Walther Rathenau. Er war Jude, was den Terroristen noch stärkeren Anlass bot, es auf ihn abzusehen – und ihn am 24. Juni 1922 umzubringen.
Wie es zu Besetzung des Ruhrgebiets kam
Der Mord hatte einen eklatanten Verfall der Mark zur Folge. Einem Staat, der nicht mal in der Lage war, seine Minister zu schützen, traute niemand mehr. Durch die rasant steigende Inflation konnte die Reichsregierung den festgelegten Reparationszahlungen nicht nachkommen. Deshalb machten Franzosen und Belgier ihre Drohung wahr und besetzten am 11. Januar 1923 – da kostete ein Laib Brot schon 250 Mark – das Ruhrgebiet, nachdem sie bereits im November 1918 in die Pfalz einmarschiert waren. Ziel der Besetzung war die Konfiszierung von Sachwerten, in diesem Fall Kohle.
Gefallen lassen wollte sich die Regierung von Reichskanzler Carl Cuno die Besetzung nicht und erklärte, der Einmarsch sei illegal, ein Akt der Aggression. In der Tat gingen die Besatzer nicht zimperlich mit den Deutschen, dem Erbfeind, um. Propagandistische Flugblätter und Plakate stellten die Lage zwar übertrieben dar, aber die Menschen wurden geschlagen und gedemütigt, Frauen und Mädchen vergewaltigt, 100 000 Staatsangestellte mit ihren Familien gewaltsam aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen.
Die Bevölkerung leistete erbitterten Widerstand. Die Orte, an denen die Franzosen gehofft hatten, ihre Sachreparationen holen zu können – Fabriken und Zechen –, schlossen die Pforten. Um den passiven Widerstand zu finanzieren, liefen die Gelddruckmaschinen heiß, was die Inflation rasant beschleunigte.
Im Ruhrgebiet krachte es nicht nur zwischen den Besatzern und den Deutschen. Auch die Separatisten, die schon 1918/19 versucht hatten, eine eigenständige Republik zu errichten, und die erzwungene Eingliederung des Rheinlands nach Preußen 1815 nie verkraftet hatten, bekamen Aufschwung. Sie strebten ein unabhängiges Ruhrgebiet unter französischem Protektorat an.
Die Franzosen errichteten daraufhin eine innerdeutsche Grenze, zweitweise wurde das ganze Ruhrgebiet abgeriegelt. Mitglieder des aktiven Widerstands verübten Terroranschläge, die Inflation nahm immer stärkere Ausmaße an. Und je weniger das Geld wert war, desto verzweifelter waren die Menschen, denen die Steckrübenwinter und der bittere Hunger des Ersten Weltkriegs noch in den Knochen steckten. Das Vertrauen in die junge Republik, deren Repräsentanten zudem ständig wechselten, war im Sinkflug, wenn nicht gar im Sturzflug. Und so wuchs die Sehnsucht der Deutschen nach etwas, auf das man stolz sein, dem man vertrauen konnte.
Radikale Heilsprediger hatten Hochkonjunktur. Die Menschen sehnten sich nach einem Anführer, einem, der einen Ausweg aufzeigte, vielleicht auch einen Schuldigen benannte. War das Nationalgefühl doch wieder und wieder geohrfeigt worden – so dachten jedenfalls viele Deutsche damals. Der verlorene Krieg, der aufgezwungene Frieden – und dann noch die Tatsache, dass das Land entmilitarisiert war. Die Lage verletzte das Souveränitätsgefühl, das Schutzbedürfnis und den Stolz. Hinzu kam der persönliche Kummer, weil die Hyperinflation im Verlauf des Jahres 1923 immer absurdere Ausmaße annahm.
Ein Kilo Brot für 260 Milliarden Mark
Die Geldentwertung schritt so rasch voran, dass die Arbeiter ihre Löhne in Wäschekörben heimbrachten, das Geld musste sofort ausgegeben werden, weil es stündlich an Wert verlor. Die tief in den Deutschen verankerte Sparmentalität wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Im Herbst kostete ein Kilo Brot 260 Milliarden Mark. Die Menschen hungerten, sie waren verzweifelt: Im Kaiserreich waren Ordnung und Zuverlässigkeit des wilhelminischen Beamtentums die Regel gewesen. Jetzt fühlten sich die Menschen vom Staat betrogen.
Die Ärmsten und die Sparer waren die großen Verlierer der Inflation: jene, die sich fleißig Monat für Monat etwas vom Mund abgespart hatten, um im Alter etwas zu haben. Das war für viele bitter, so bitter, weil man dem Vaterland alles gegeben, sogar das eigene Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Manche sahen den einzigen Ausweg im Suizid. Der Missmut wuchs. Die Wut loderte.
Im September 1923 gab die seit dem 13. August bestehende Regierung Stresemann den passiven Widerstand im Ruhrgebiet auf. Sie reformierte die Währung, um einen kompletten Untergang der Volkswirtschaft und vielleicht auch das Ende der Weimarer Republik abzuwenden. Doch der neuen Staatsform wollten viele Deutsche an den Kragen – und sie alle sahen ihre Stunde gekommen: Die Kommunisten griffen nach der Macht, militante Separatisten riefen am 21. Oktober 1923 die unabhängige Rheinische Republik aus, Mitte November folgte die Ausrufung der Pfälzischen Republik. Wenige Tage zuvor schritt Hitler zur Tat. Schließlich war es seinem Idol Mussolini im unweit gelegenen Italien schon 1922 mit seinem »Marsch auf Rom« gelungen, Ministerpräsident zu werden. Davon träumte Hitler auch, brachte es bei seinem geplanten »Marsch auf Berlin« im November allerdings nur bis zur Münchner Feldherrenhalle. Da hatte sich’s dann ausmarschiert, er und seine Mannen wurden von der bayerischen Landespolizei gestellt.
Das änderte aber nichts daran, dass die extremen Kräfte enormen Zulauf hatten. Nicht nur in Bayern, über dessen Hauptstadt Thomas Mann klagte, es sei »die Stadt Hitlers«, und in dessen Wäldern paramilitärische rechte Verbände trainierten. Aus Moskau wuchs der Druck auf die Kommunistische Partei (KPD) in Thüringen und Sachsen, die Staatskrise für einen bewaffneten Umsturz zu nutzen und in Anlehnung an die russische Oktoberrevolution von 1917 einen »deutschen Oktober« einzuläuten. Nachdem sich KPD und SPD in Sachsen und Thüringen zu einem Regierungsbündnis zusammengeschlossen hatten, formierten sich die »Proletarischen Hundertschaften« unter Führung der KPD und des linken Flügels der SPD. Stoisch ignorierte die sächsische Regierung die Rufe aus Berlin, die bewaffneten Einheiten sofort aufzulösen und die kommunistischen Minister ihrer Ämter zu entheben.
Daraufhin verhängte die Reichsregierung die Reichsexekution und den militärischen Ausnahmezustand – sie ließ am 23. Oktober 1923 die Reichswehr in Sachsen einmarschieren. Sechs Tage später wurde die Landesregierung ihres Amtes enthoben, während sich das Kabinett im benachbarten Thüringen lieber freiwillig auflöste. Der »deutsche Oktober« war also weit weniger stürmisch verlaufen als einst der russische, und Hitler war zwei Tage nach seinem Putschversuch verhaftet, die NSDAP verboten worden. Auch die unabhängige Rheinische Republik fand im November 1923 und die Pfälzischen Republik bis Februar 1924 ein Ende.
»Eine Geschichte des Sieges der deutschen Demokraten«
Auch wenn das Jahr 1923 nicht mit goldenen Lettern ins deutsche Geschichtsbuch geschrieben werden würde, wie Wilhelm Marx, der dem am 22. November gestürzten Stresemann im Amt nachfolgte, bilanzierte, so folgten doch goldene Jahre. Der Historiker Mark Jones vom University College Dublin unterstreicht in seinem Buch »1923 – Ein deutsches Trauma«, »dass die Geschichte des Jahres 1923 nicht nur von Radikalisierung und Gewalt handelt, sie ist auch eine Geschichte des Sieges der deutschen Demokraten über ihre Widersacher. Ende 1923 saß Hitler in Festungshaft, und Thomas Mann hegte sogar die Hoffnung, dass sich Europas Intellektuelle schon bald vereinen würden, um den Kontinent in eine bessere Zukunft zu führen.«
Und in der Tat: Literaten, Künstler und Intellektuelle setzten dem tumben, brutalen Extremismus unermüdlich humanistische und liberale Werte entgegen. Demokratie, Aufklärung, Wissenschaft und Kunst versus Diktatur, Volkstümelei, Antisemitismus und Radikalismus.
Als die Inflation dann im November 1923 mit der Rentenmark überraschend effektiv gestoppt und 1924 die neue Reichsmark eingeführt wurde, schienen sie endgültig vorbei zu sein, die bitteren Jahre. Nicht zuletzt dank internationaler Anleihen sowie der US-Amerikaner und ihres Dawes-Plans, der die künftigen Reparationszahlungen auf eine solide Grundlage stellte. Der Wohnungsbau boomte, der Verkehr nahm zu, der Wohlstand auch. Nach all der schweren Zeit waren die Menschen so voller Lust auf Luxus und ein gutes Leben. Und was das für ein Leben war! Zügellos bisweilen, geprägt von Ausschweifungen in wild durchtanzten Nächten voller Glitzer und Verlockungen. Manch einem eher konservativen Bürger war das Ganze freilich unheimlich.
Als die Weltwirtschaftskrise die »Goldenen Zwanziger Jahre« dann 1929 schlagartig beendete, wussten die extrem rechten Kräfte ihre Chance zu nutzen. Verteidiger der Republik wie Thomas Mann mussten ins Ausland fliehen und manch einer, der den »Schandvertrag von Versailles« nie verkraftet hatte, sah seine Stunde gekommen, die »Schmach« der Väter zu sühnen. Anders als bei der Hyperinflation von 1923 gelang es Deutschland jedoch nicht, die Folgen dieser Finanzkrise zu meistern.