Im Lesezimmer einer Ikone: Forschende haben die komplette Privatbibliothek von Charles Darwin zusammengetragen und erstmals in einem 300-seitigen Online-Katalog für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darwins Lesestoff-Sammlung umfasste demnach einst 7.400 Titel und behandelte neben Biologie und Geologie auch Kunst, Religion und Geschichte. Nur etwa die Hälfte der katalogisierten Werke sind dabei in Darwins Muttersprache Englisch verfasst. Auch deutsche Publikationen standen einst in seinem Lesezimmer.
Als Vater der Evolutionslehre gehört Charles Darwin zu den einflussreichsten Wissenschaftlern aller Zeiten. Nach wie vor streben Historiker, Biologen und Fans danach, die Gedankengänge und Vorstellungen des berühmten Forschers nachzuvollziehen. Wie kam er zu seinen damals bahnbrechend neuen Ideen? Erst kürzlich war ein solcher Einblick in besonderem Maße möglich, als das Originalmanuskript von Darwins epochalem Werk „Die Entstehung der Arten“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
7.400 Titel im digitalen Bücherregal
Heute, an Darwins 215. Geburtstag, gibt es ein weiteres Schmankerl für seine Fangemeinde: Forschende um John van Wyhe von der National University of Singapore haben nach langer Recherche Charles Darwins komplette Privatbibliothek zusammengetragen und in Form eines 300-seitigen Online-Katalogs für jeden zugänglich im Internet veröffentlicht. Mit ihr lässt sich nachvollziehen, was Darwin zu Lebzeiten las und womöglich auch, woher er seine Inspiration nahm.
Im Lesezimmer der britischen Wissenschaftsikone standen demnach einst 7.400 Titel – publiziert in 13.000 Büchern, Broschüren und Zeitschriften. Frühere Listen hatten lediglich 15 Prozent von Darwins gesamter Sammlung enthalten. Der Rest galt lange Zeit als verloren, verstreut und vergessen.
Jahrelange Detektivarbeit
Um auch die restlichen 85 Prozent von Darwins Lieblingswerken zusammenzutragen, war ein aufwändiger, 18-jähriger Rechercheprozess notwendig. Eine der wichtigsten Informationsquellen für das Projekt „Darwin Online“ war dabei ein 426-seitiger handschriftlicher Katalog aus dem Jahr 1875, der verschiedene Werke aus Darwins Sammlung auflistete. Allein darin fanden van Wyhe und seine Kollegen 440 bislang unbekannte Titel, die sich einst in der Bibliothek befunden haben müssen.
Ebenfalls hilfreich für die Rekonstruktion von Darwins Lesestoff waren Notizbücher und Briefe, in denen der Forscher über seine Leseerfahrungen schrieb, aber auch die Tagebücher seiner Frau Emma und ein Bücherkatalog, der 1908 der Cambridge University übergeben wurde. Hinzu kommen Werke aus Darwins Sammlung, die mittlerweile in Universitätsbibliotheken und privaten Sammlungen liegen, sowie solche, die in den vergangenen 130 Jahren auf Auktionen verkauft wurden.
Was hat Darwin gelesen?
Zu den Auktionsfunden gehört zum Beispiel Darwins Exemplar eines ornithologischen Artikels über den Geruchssinn des Truthahngeiers, das 1975 versteigert wurde. 2019 kam außerdem ein Exemplar des Romans „Wives and Daughters“ unter den Auktionshammer, in dem sich folgende Notiz fand: „Dieses Buch war ein großes Lieblingsbuch von Charles Darwin und das letzte Buch, das ihm vorgelesen wurde.“
Die meisten Werke in Darwins Bibliothek befassten sich allerdings – wenig überraschend – mit Biologie und Geologie, zum Beispiel mit Zucht, Verhalten und Verbreitung verschiedener Tierarten. Hinzu kamen allerdings auch Veröffentlichungen über Philosophie, Psychologie, Religion sowie Kunst, Geschichte, Reisen und Sprache, erklären van Wyhe und sein Team. In Darwins Besitz befand sich zum Beispiel der Bildband „Sun Pictures“ aus dem Jahr 1872, der Fotografien verschiedener Kunstwerke abbildete.
Nur etwa die Hälfte von Darwins gesammelten Werken war auch in seiner Muttersprache Englisch verfasst, wie die Forschenden feststellten. Bei dem Rest handelte es sich vor allem um deutsche, französische und italienische Publikationen, aber auch um solche auf Niederländisch, Dänisch, Spanisch, Schwedisch und Latein. Unter anderem war auch eine Ausgabe einer deutschen wissenschaftlichen Zeitschrift dabei, die Darwin 1877 zugesandt bekam und die die ersten veröffentlichten Fotos von Bakterien enthielt.
Sammlungswert ist in die Höhe geschossen
„Dieser beispiellos detaillierte Blick auf Darwins komplette Bibliothek lässt mehr denn je erkennen, dass er keine isolierte Figur war, die allein arbeitete, sondern ein Experte seiner Zeit, der sich auf die hochentwickelte Wissenschaft und das Wissen von tausenden von Menschen stützte. Der Umfang und die Bandbreite der Werke in der Bibliothek verdeutlichen das außergewöhnliche Ausmaß von Darwins Forschung über die Arbeit anderer“, so van Wyhe.
Doch zu Darwins Zeiten stieß dessen Sammlung offenbar auf deutlich weniger Interesse und Begeisterung. So fanden van Wyhe und seine Kollegen heraus, dass der Beamte, der einst nach Darwins Tod die Höhe seiner Erbschaftssteuer schätzen sollte, seinen gesamten wissenschaftlichen Werken gerade einmal einen Wert von 30 Pfund und zwölf Schilling zusprach. Das würde heute rund 2.350 Euro entsprechen. Deutlich höhere Summen würden Sammler heutzutage wahrscheinlich pro Originalwerk aus Darwins Bibliothek zahlen.
Die Bibliothek zum Nachlesen
Wer selbst einmal so lesen möchte wie Darwin, der findet hier den Komplett-Katalog seiner Privatbibliothek. Der Katalog enthält außerdem 9.300 Links zu frei verfügbaren Online-Kopien der Werke, die einst in Charles Darwins Bücherregalen standen.
Quelle: National University of Singapore