Erforschung der seltenen Krankheit „Prosopometamorphopsie“ macht Fortschritte
Dämonische Täuschung: Für einen 58-jährigen US-Amerikaner wirkt jedes Gesicht verzerrt und sieht aus wie die Grimasse eines Dämonen. Er leidet an der seltenen neurologischen Krankheit Prosopometamorphopsie. Allerdings scheint er eine besondere Form der Wahrnehmungsstörung zu haben, die der Forschung nun dabei geholfen hat, diese Krankheit besser zu verstehen. Unter anderem sind nun erstmals Bilder aus Sicht eines Betroffenen entstanden.
Für Menschen mit Prosopometamorphopsie (kurz PMO) ist jedes Gesicht, in das sie blicken, seltsam verzerrt. Die Gesichtszüge hängen zum Beispiel, sind gestreckt, falsch gefärbt oder erscheinen ungewöhnlich groß beziehungsweise klein. Wie die neurologische Krankheit entsteht, ist noch unklar, denn bislang sind der Wissenschaft weltweit nur rund 75 Fälle bekannt.
Dämonen überall
Glücklicherweise hält die verzerrte Wahrnehmung bei den meisten Betroffenen nur wenige Tage oder Wochen an, doch es gibt Fälle, in denen Patienten jahrelang darunter leiden. Einer von ihnen ist ein 58-jähriger US-Amerikaner, der nun bei Neurologen um Antônio Mello vom Dartmouth College vorstellig geworden ist. Für ihn erscheint jedes Gesicht so verzerrt wie die Grimasse eines Dämonen – und das schon seit drei Jahren. Bekannte Personen wie Familienangehörige oder Freunde kann er aber trotz Verzerrung weiterhin zuverlässig erkennen.
Das Besondere an dem Patienten: Anders als alle bisher bekannten PMO-Fälle erscheinen ihm nur echte Gesichter verzerrt. Betrachtet er hingegen Porträts auf einem Bildschirm oder auf Papier, wird aus der Dämonenfratze wieder ein normales menschliches Antlitz. Mello und seine Kollegen haben diesen einzigartigen Umstand nun genutzt, um die Welt zum ersten Mal zuverlässig aus der Sicht eines PMO-Patienten abzubilden.
Froschmaul, Schlitzaugen und spitze Ohren
Für ihr Experiment zeigten die Neurologen dem 58-Jährigen die Gesichter verschiedener Personen gleichzeitig live und als Foto. Mithilfe einer Bildbearbeitungssoftware und den Beschreibungen des Patienten konnten Mello und sein Team die Fotos dann so verändern, dass sie exakte Kopien dessen darstellten, wie der PMO-Betroffene die Gesichter seiner Mitmenschen tagtäglich wahrnimmt.
Das Ergebnis: Die Augen anderer Menschen erscheinen dem Patienten zu länglichen Schlitzen verzerrt, der Mund formt ein breites Froschmaul und die Ohren laufen so spitz zu wie bei einigen Gestalten aus „Der Herr der Ringe“. An Stirn, Kinn und Wangen nimmt der PMO-Betroffene außerdem tiefe Furchen wahr.
Was verursacht die Krankheit?
Doch woher kommt die dämonisch verzerrte Wahrnehmung des Mannes? Wie genau eine Prosopometamorphopsie entsteht, ist zwar noch weitgehend unbekannt, sie kann jedoch zum Beispiel im Zusammenhang mit einem Kopftrauma, einem Hirninfarkt, Epilepsie oder Migräne auftreten. Bei dem von Mello und seinem Team untersuchten 58-Jährigen kommen gleich mehrere Ursachen in Frage.
„Der Patient litt an einer bipolaren affektiven Störung und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Außerdem erlitt er im Alter von 43 Jahren eine schwere Kopfverletzung, die zu einem Krankenhausaufenthalt führte. Darüber hinaus hatte er im Alter von 55 Jahren möglicherweise eine Kohlenmonoxidvergiftung, die vier Monate vor dem Auftreten seiner Verzerrungssymptome stattfand“, berichten Mello und sein Team.
Ein Scan im Magnetresonanztomographen (MRT) ergab außerdem, dass sich im Hippocampus des Patienten eine etwa einen Zentimeter große Raumforderung – wahrscheinlich eine Zyste – befindet. Da dieses Hirnareal jedoch nicht für die Wahrnehmung von Gesichtern verantwortlich ist, bleibt unklar, welche Rolle die Zyste bei der verzerrten Wahrnehmung des Mannes spielt. Auch sonst lässt sich noch nicht genau zuordnen, was die Symptome am wahrscheinlichsten hervorruft. Lediglich Medikamente und psychoaktive Drogen können Mello und seine Kollegen derzeit als Ursache ausschließen.
Eine missverstandene Krankheit
Mit ihren neuen Erkenntnissen wollen die Neurologen der Krankheit nun zu größerer Bekanntheit verhelfen. Denn bislang ist das Wissen darüber selbst in der medizinischen Fachwelt kaum verbreitet. PMO wird deshalb häufig fehldiagnostiziert: „Wir haben von mehreren Menschen mit PMO gehört, dass sie von Psychiatern als schizophren diagnostiziert und auf Antipsychotika gesetzt wurden, obwohl es sich bei ihrem Leiden um ein Problem mit dem visuellen System handelt“, erklärt Seniorautor Brad Duchaine, ebenfalls vom Dartmouth College.
„Und es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die an PMO leiden, anderen nicht von ihrem Problem mit der Gesichtswahrnehmung erzählen, weil sie befürchten, dass andere die Verzerrungen für ein Zeichen einer psychiatrischen Störung halten“, so Duchaine weiter. Ohne dieses Stigma würde es Betroffenen deutlich leichter fallen, zeitnah professionelle Hilfe zu suchen. (The Lancet, 2024; doi: 10.1016/S0140-6736(24)00136-3)
Quelle: Dartmouth College