Auch Mutationen in nicht-kodierenden Genen können neurologische Folgen haben
Genetische Ursache: Mediziner haben ein Schlüsselgen entdeckt, das bei der Entwicklung von geistigen Behinderungen eine wesentliche Rolle spielt. Demnach führen verschiedene Mutationen im sogenannten RNU4-2-Gen zu neurologischen Störungen, durch die Betroffene ehebliche kognitive und mentale Defizite entwickeln, wie die Forschenden in „Nature Medicine“ berichten. Der Genfund könnte künftig die Diagnose und Therapie solcher Entwicklungsstörungen verbessern. Das Besondere dabei: Das Gen kodiert nicht für ein bestimmtes Protein, ist aber dennoch an einem grundlegenden zellulären Prozess beteiligt.
Menschen mit einer klinisch festgestellten geistigen Behinderung sind intellektuell weniger leistungsfähig. Auch ihre sozialen und praktischen Fähigkeiten können durch die neurologische Entwicklungsstörung beeinträchtigt sein. Betroffene haben oft Lern- und Verhaltensschwierigkeiten.
Fahndung jenseits der klassischen Gene
Der Auslöser der Behinderung war bislang jedoch oft unklar. Zwar haben frühere Studien einen Zusammenhang mit hunderten verschiedenen Genen festgestellt. Doch bei den meisten Betroffenen ließ sich bisher keine eindeutige genetische Komponente identifizieren. „Die meisten Fälle blieben auch nach den genetischen Tests ungeklärt“, erklären Daniel Greene vom Mount Sinai Hospital in New York und seine Kollegen.
Auf der Suche nach einer Ursache haben Greene und sein Team nun das Erbgut von 77.539 Menschen aus Großbritannien genauer untersucht, darunter 5.529 Menschen mit einer geistigen Behinderung. Im Gegensatz zu früheren Analysen durchforsteten die Mediziner dafür nicht nur die DNA der Gene, die für Proteine kodieren, sondern untersuchten auch Zusammenhänge mit nicht-kodierenden Erbgutabschnitten. Diese Gene enthalten beispielsweise Bauanleitungen für RNA und andere Moleküle, die das Ablesen der Gene und ihre Aktivität regulieren.
Ein einzelnes Gen ist verantwortlich
Bei diesen Analysen identifizierten die Forschenden bisher unbekannte Mutationen in einem einzelnen Gen, dem nicht-kodierenden Gen RNU4-2. Diese DNA-Veränderungen kommen insgesamt selten vor, weil dieses Gen sehr klein ist und wenig Spielraum für Fehler beispielsweise beim Kopieren des Erbguts lässt. Die Mediziner fanden diese Mutationen daher nur bei 47 der über 77.000 Personen.
Mutationen in dem RNU4-2-Gen erhöhen jedoch das Risiko für eine geistige Behinderung deutlich. So identifizierte das Team drei Varianten dieses Gens, die die Wahrscheinlichkeit für geistige Defizite um mehr als 50 Prozent erhöhen. Beim Abgleich mit drei weiteren, kleineren wissenschaftlichen Gen-Datenbanken aus Großbritannien fanden Greene und seine Kollegen 26 weitere Personen mit einer geistigen Behinderung, die eine Mutation in diesem Gen aufwiesen.
Bei den Veränderungen im RNU4-2-Gen handelte es sich überwiegend um spontan erworbene und nur in einem Fall um eine vererbte Mutation, wie die Forschenden betonen. Die von diesen Genveränderungen verursachten neurologischen Entwicklungsstörungen gehen daher nur extrem selten auf eine familiär bedingte Veranlagung zurück.
Was bewirkt RNU4-2 in unseren Zellen?
Doch warum ist das RNU4-2 so wichtig für die menschliche Intelligenz? Das Gen enthält die Information für einen Baustein des sogenannten Spliceosoms, wie das Team erklärt. Diese molekulare Maschine besteht aus mehreren snRNAs und Proteinen und verarbeitet und prozessiert sämtliche mRNA-Moleküle in den Zellen unseres Körpers – also jene RNAs, die die genetische Information für Proteine weitergeben.
Das Spliceosom schneidet dabei für den Bauplan irrelevante Abschnitte, sogenannte Introns, aus den mRNA-Vorläufern heraus und ist damit für das Reifen der mRNAs zuständig. Dies sorgt dafür, dass die Boten-RNA nur die für die Herstellung von Proteinen benötigten Bauanleitungen in korrekter Abfolge und vollständig zu den Proteinfabriken der Zelle transportieren. Funktioniert dieser Korrekturschritt nicht, können fehlerhafte Proteine entstehen.
Mögliche Ursache für zehntausende Fälle
Wie genau die Mutationen die Funktion von RNU4-2 verändern, sollen nun Folgestudien klären. Greene und seine Kollegen gehen jedoch davon aus, dass sie die Ursache für weltweit zehntausende Fälle von geistiger Behinderung sind, da ein fehlerhaftes Spliceosom auf zellulärer Ebene weitreichende Folgen haben kann. „Heutzutage ist es außerordentlich ungewöhnlich, ein einzelnes Gen zu finden, das genetische Varianten beherbergt, die für zehntausende von Patienten mit einer seltenen Krankheit verantwortlich sind“, so Greene.
Das verdeutlicht, wie wichtig es ist, auch nicht-kodierende Gene zu erforschen. „Der Mehrwert solcher Studien liegt darin, dass wir langsam verstehen, welche nicht-protein-kodierenden Bereiche des Genoms bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle spielen”, erklärt Ingo Kurth von der Uniklinik der RWTH Aachen, der nicht an der Studie beteiligt war. „Hier zeigt sich, dass RNU4-2 ein solches Element darstellt.”
Die Erkenntnisse könnten nun helfen, die Entwicklungsstörungen zu diagnostizieren, und möglicherweise künftig auch helfen, sie zu behandeln. (Nature Medicine, 2024; doi: 10.1038/s41591-024-03085-5)
Quelle: Nature, Mount Sinai Hospital