Das an der Universität Osnabrück durchgeführte historisch-juristische Forschungsprojekt „Betroffene – Beschuldigte – Kirchenleitung: Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen sowie schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen im Bistum Osnabrück“ gibt die erstmals ermittelten Gesamtzahlen zu Betroffenen, Taten und beschuldigten Klerikern im Bistum Osnabrück bekannt. Überdies präsentieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ergebnisse neuer Forschungsansätze dazu, wie Tatvorwürfe durch Beschuldigte, Kirchenverantwortliche und das soziale Umfeld umgedeutet wurden und wie es dadurch möglich wurde, Taten zu begehen und zu verdecken.
Für den Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart ermittelte die Forschungsgruppe 122 Priester und Diakone, denen sexualisierte Gewalt an 349 Betroffenen vorgeworfen wird. Konkrete Hinweise liegen zu mindestens 60 weiteren Betroffenen vor, so dass eine Mindestzahl der Betroffenen im Bistum Osnabrück über 400 als gesichert anzunehmen ist. Über diese Zahlen hinaus ist von einem großen Dunkelfeld an Taten und Betroffenen auszugehen. Die vorgeworfenen Taten umfassen das gesamte Spektrum sexualisierter Gewalt von Distanzverletzungen bis hin zu schweren Sexualstraftaten.
Der Anteil der Beschuldigten an den seit 1945 in der Seelsorge eingesetzten ca. 3.000 Klerikern im Bistum Osnabrück beträgt 4,1 Prozent, also einer von 25 Klerikern. Diese Größenordnung von ca. 4 Prozent bestätigt die Befunde zu anderen katholischen Bistümern in Deutschland und verweist auf eine mögliche Konstante.
Der Abschlussbericht bestätigt die Ergebnisse zu den Pflichtverletzungen der Bistumsleitungen, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits in einem Zwischenbericht anhand einiger Beispielsfälle im September 2022 festgestellt hat. Auch das Gesamtbild aller ermittelbaren Beschuldigten und Betroffenen zeigt, dass das Bistum Osnabrück seine Pflichten, Maßnahmen gegen verdächtige Kleriker zu ergreifen, über lange Zeit erheblich verletzt, in der jüngsten Zeit jedoch, vor allem nach dem Zwischenbericht, im Wesentlichen erfüllt hat. Hingegen hat das Bistum Osnabrück die Pflicht, den Betroffenen zu helfen, über lange Zeit in erheblichem Maße bis in die jüngste Vergangenheit verletzt. Für das Erzbistum Hamburg, zu dem seit 1995 viele Gebiete und Kleriker des Bistums Osnabrück gehören, zeigte sich damals ein ähnliches Bild.
Viele der festgestellten Organisationsmängel sind in den letzten Jahren, besonders auch nach dem Zwischenbericht, durch Maßnahmen verringert worden, insbesondere im Bistum Osnabrück, etwas weniger, soweit erkennbar, im Erzbistum Hamburg. Ob diese Maßnahmen ausreichen, um die festgestellten Defizite, besonders im Verhalten und der Entschädigungspraxis gegenüber Betroffenen, zu beseitigen, kann angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums nicht abschließend beurteilt werden.
„Es ist im Bistum Osnabrück eine Lernkurve erkennbar, die nach oben zeigt“, sagt Prof. Dr. Hans Schulte-Nölke, einer der Projektleiter. „Jedoch bleiben die an Betroffene erbrachten Leistungen noch hinter dem zurück, was die staatlichen Gerichte in klaren Fällen zusprechen würden“, so Schulte-Nölke weiter.
Anders als bisherige Studien zu sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum haben sich die Forschenden ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie sexualisierte Gewalt durch Sprache umgedeutet und dadurch ermöglicht bzw. nicht verhindert wird. Solche Umdeutungen ermöglichten es den Beschuldigten, ihr Handeln zu verbergen, zu verharmlosen oder als Teil ihrer priesterlichen Aufgaben erscheinen zu lassen. Vielfach gab sich die Kirchenleitung damit zufrieden und ging nicht oder nur unzureichend gegen die Beschuldigten vor. Beschuldigte konnten dadurch weitere Taten begehen. Die Beschäftigung mit den von den Forschenden herausgearbeiteten „Narrativen“ sexualisierter Gewalt erlaubt auch Aussagen über die Rolle des sozialen Umfeldes der Taten, etwa der Gemeinden, in denen sie verübt wurden. Eine Untersuchung geläufiger Narrative ermöglicht einen Zugriff auf diese ansonsten schwierig fassbare Ebene von Fällen sexualisierter Gewalt.
„Mit dem Zugang über sprachliche Umdeutungsversuche können wir Ebenen von Fällen sexualisierter Gewalt beleuchten, die in den vielfach üblichen Fallstudien kaum greifbar werden“, erläutert der Historiker Dr. Jürgen Schmiesing. „Dadurch können wir auch Verhaltens- und Sprachmuster aufzeigen, die über die vermeintlichen Einzelfälle hinausgehen und die ein grundsätzliches Problem darstellen.“ Das Aufdecken solcher Muster verstehen die Forschenden auch als Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum und darüber hinaus.
Einen neuen Ansatz verfolgen die Osnabrücker Wissenschaftler auch dabei, Fälle sexualisierter Gewalt zu beschreiben. „Ein zentrales Anliegen von gesellschaftlicher Aufarbeitung ist es, die Erfahrungen und das Leid der Betroffenen anzuerkennen und einer breiten Öffentlichkeit einen angemessenen und zugleich anschaulichen Zugang dazu zu eröffnen“, sagt Prof. Dr. Siegrid Westphal, eine der beiden Projektleiter. Jedoch könnte eine anschauliche Fallstudie die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten verletzen und vor allem Betroffene in ihrem Umfeld ungewollt erkennbar machen. Aus diesem Grund haben die Forschenden gemeinsam mit Betroffenen das Konzept der „Einblicke“ entwickelt. In kurzen Erzähltexten werden charakteristische Ausschnitte aus Interviewberichten und Aktenfunden szenisch verdichtet. Die Leserinnen und Leser können sich mit den Erfahrungen der Betroffenen und Beteiligten auseinandersetzen und ihre oft ausweglose oder schwierige Situation nachvollziehen. Die „Einblicke“ schildern häufig Erfahrungen, die Betroffene in unterschiedlichen Fällen in ganz ähnlicher Form machen mussten. „Viele Betroffene können oder möchten aus guten Gründen nicht öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen. Viele sind auch schon verstorben. Wir sehen die ‚Einblicke‘ als mittelbare Zeugnisse an, in denen wir ihr Wissen bewahren und weitergeben können“, so Westphal.
In die Arbeit des Forschungsprojekts waren drei Betroffene sexualisierter Gewalt als Mitglieder einer Steuerungsgruppe aktiv eingebunden. Sie gaben aus ihrer persönlichen und fachlichen Perspektive nicht nur Rückmeldung zur sensiblen, passenden sprachlichen Darstellung der Ereignisse, sondern wirkten auch mit wichtigen Impulsen an der konzeptionellen Arbeit mit. „Es ging nicht um moralischen Druck à la ‚ihr müsst das machen, weil wir Betroffene sind.‘ Im Gegenteil, die unterschiedlichen Vorschläge der Betroffenen wurden so ernst genommen, dass ihnen begründet widersprochen wurde, wenn sie nicht umsetzbar waren – und dass sie aufgenommen wurden, wenn es für die Arbeit Sinn machte bzw. einen Mehrwert bedeutete,“ so die Betroffenen Max Ciolek, Karl Haucke und Katharina Kracht in einem eigenen Beitrag im Rahmen des Berichts. Auch die Forschenden betrachten die Zusammenarbeit als großen Gewinn und Mehrwert.
Hintergrund zum Forschungsprojekt: Die Universität Osnabrück führt in dem seit September 2021 laufenden und auf drei Jahre angelegten Projekt eine Studie zu sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen im kirchlichen Raum im Bistum Osnabrück seit 1945 durch. Bis 1995 gehörte auch das heutige Erzbistum Hamburg zum Bistum Osnabrück. Das Bistum stellt der Universität Osnabrück 1,3 Millionen Euro bereit. Es hat der Universität vertraglich zugesichert, die Recherche uneingeschränkt zu unterstützen und freien Zugang zu allen Dokumenten zu gewähren, soweit dies rechtlich zulässig ist. Die Veröffentlichung von Erkenntnissen seitens der Universität erfolgt in uneingeschränkter Wissenschaftsfreiheit. Einspruchsmöglichkeiten seitens des Bistums bestehen nicht. Das juristisch-historische Forschungsprojekt wird von dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Hans Schulte-Nölke und der Historikerin Prof. Dr. Siegrid Westphal geleitet. Koordinator der Forschungsgruppe ist der Historiker Dr. Jürgen Schmiesing. (alle Universität Osnabrück)
Der Abschlussbericht wird in Form einer Internethomepage veröffentlicht, auf der die Nutzerinnen und Nutzer gezielt die für sie interessanten Themen anwählen können. Die Plattform wird am Mittwoch, 2. Oktober 2024, 11 Uhr, freigeschaltet: https://www.s-gewalt.uni-osnabrueck.de/