Philipp Blom, im Interview mit Bernhard Ott
Philipp Blom schrieb bereits Werke über Aufbruchszeiten wie die Aufklärung oder das frühe zwanzigste Jahrhundert. Unterdem Titel Die Unterwerfung befasste er sich zuletzt mit der menschlichen Herrschaft über die Natur. Jetzt sieht er aber Anlass zur Hoffnung. Ein Interview über die Frage nach dem richitgen Seinsmodus in einer entzauberten Welt.
Dieses Interview wurden für die Zeitschrift „Der Bund“ geführt.
Herr Blom, unsere Zeit gibt wenig Anlass für Hoffnung. Was braucht es, damit die Menschen wieder hoffen können?
Um hoffen zu können, müssen die Menschen überzeugt sein, dass die Welt verändert werden kann. Das ist das Gegenteil des Narrativs von der angeblichen Alternativlosigkeit einer neoliberalen Welt. Und sie müssen das Gefühl haben, sie nähmen teil an einem größeren Sinn, einer größeren Geschichte.
Es gibt aber gerade keine „größere Geschichte“ mehr: Den Kirchen laufen die Gläubigen davon. Die Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts endeten in Massenmord.
Unsere Gesellschaft glaubt nicht mehr an ihre Zukunft. Das ist ein Symptom der explodierenden technologischen Entwicklung. Historiker nennen die Zeit seit 1960 die große Beschleunigung. Die Technologien entwickeln sich viel schneller, als die Gesellschaften sie begreifen, verdauen und legislativ einbetten können.
Viele sehen aber just in der Digitalisierung Hoffnung.
Es gibt Technologien zur Regelung aller möglichen Probleme. Aber es gibt keine Technologie, die uns glücklich machen kann. Selbstverständlich wäre es toll, eine Krebstherapie zu haben, die dank künstlicher Intelligenz (KI) auf das eigene Genom zugeschnitten ist. Aber jede Technologie kann auch für schreckliche Dinge verwendet werden. Zudem bedeutet KI eben auch das Ende der Arbeit oder zumindest vieler Arbeiten. Arbeit, zumal gute Arbeit, wird für viele Menschen zum Luxusgut werden. Arbeit mit Texten und Zahlen ist wunderbar digitalisierbar.
Ich könnte Daten zu Ihrem Leben und Werk eingeben, und die KI macht ein Interview daraus?
Und das ist noch nicht alles. Bald werden Sie mein Œuvre einscannen und die KI in meinem Stil neue Bücher schreiben lassen. Da darf man sich keine Illusionen machen.
So wird aber auch der Wettbewerb der Ideen ausgeschaltet.
Die Gefahr besteht. Aber wenn KI Muster erkennen kann und daraus etwas Neues schafft, ist das nicht auch kreativ?
Wozu braucht es da noch Geisteswissenschaften?
Die Geisteswissenschaften sind ohnehin daran, sich selber abzuschaffen. Ein Teil ökonomisiert sich, der andere ideologisiert sich im Zeichen des Postkolonialismus. Zudem ist KI unendlich bequem und reicht in 99 Prozent der Fälle aus, denn 99 Prozent der Texte bestehen aus Bausteinen, die immer wieder gebraucht und variiert werden. Wer wird in Zukunft seine Texte noch selber schreiben?
Was macht denn eine Gesellschaft ohne Geisteswissenschaften aus?
Es ist eine Gesellschaft, in der ein Master of Business Administration (MBA) das Nonplusultra an Intellektualität darstellt. Aber letztlich sind die Ziele von Computern nicht die Ziele von Menschen, genauso wie die Ziele der Märkte nicht die Ziele der Staaten sind. Wir brauchen Geist, und wir brauchen Menschen, die nachdenken.
Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit, denn die Welttemperatur steigt wohl um mehr als zwei Grad. Was bedeutet dies?
Dass es schwer wird, überhaupt physisch zu überleben. Einigen Menschen in einigen Teilen der Welt wird das gelingen. Aber es wird eine schreckliche Welt der Zerstörung und des Totschlags werden. Das ist aber nicht unser Schicksal. Es liegt in unserer Hand, dies abzuwenden. Mein Best-Case-Szenario ist, dass es nicht eine große Katastrophe gibt, sondern viele kleinere. In der Kleinen Eiszeit haben die Menschen den Kapitalismus erfunden. Das war damals wichtig, um zu überleben, hat aber eine Eigendynamik bis heute entwickelt. Wir werden es vielleicht wieder schaffen, uns an neue Bedingungen anzupassen. Warum sollten wir es nicht?
Wann werden wir damit beginnen?
Menschen lernen nicht durch kluge Bücher oder durch Argumente. Sie lernen, wenn ihre Erfahrungen nicht mehr mit ihren Geschichten übereinstimmen. Wenn ihr Wissen über die Welt nicht mehr zutrifft. Dann sind sie bereit, über Alternativen nachzudenken. Die Technologien dafür gibt es bereits. Aber wir können nicht davon ausgehen, weiter zu konsumieren wie bisher.
Das ist aber immer noch das Versprechen der Politik.
Aber es ist ein dummes Versprechen. In der Nachkriegszeit war es noch einfach, an die Zukunft zu glauben. Das hat sich geändert. Das Konsumrecht ist nur noch die triviale Cousine der Hoffnung.
Gibt es denn Hoffnung jenseits der Fortschrittserzählungen von Religionen und Ideologien?
Seit 1990 hat die Menschheit mehr fossile Brennstoffe verbrannt als die Menschheit zuvor. Bis wir sie ersetzen können, werden wir andere Lösungen finden müssen. Die haben zu tun mit weniger Konsum, weniger Besitz und stärkeren Gemeinschaften. Mit anderen Definitionen eines guten Lebens. Ich habe kein Rezept, und es ist auch nicht meine Aufgabe, eines zu finden. Das müssen wir gemeinsam tun.
Wie könnte denn eine neue gesellschaftliche Erzählung aussehen?
Die Umrisse einer neuen Geschichte sind wahrnehmbar. Sie dreht sich um die Erkenntnis, dass wir nicht Meister, sondern Teil der Natur sind. Die Neuentdeckung der Menschen als interessante Primaten wird andere Ideen für ein gutes Leben hervorbringen. Es entstehen andere Bedürfnisse und Ideen von Glück. Dies wird uns auch dazu bringen, eine Art des Wirtschaftens zu entwickeln, mit der wir als Spezies überleben können.
Wer liefert uns die Ideen dazu, wenn sich die Geisteswissenschaften abschaffen?
Die Naturwissenschaften sagen uns nicht nur, dass wir interessante Säugetiere sind, sondern dass jeder Mensch viel mehr nicht menschliche Zellen in sich trägt als menschliche Zellen. Unsere Körper beherbergen Zehntausende von Kleinlebewesen. Sie sind kollektiv verantwortlich dafür, wie intelligent und wie gestimmt wir sind und welche Krankheiten wir kriegen. Mit anderen Worten: Wir sind bereits symbiotische Systeme, auch wenn wir glauben, wir seien Individuen. Das Individuum wird weniger wichtig. In der Neuentdeckung des Menschen als Knotenpunkt von Systemen liegt eine Revolution.
Versteht sich der Mensch als Teil eines Ganzen, müsste er vom hohen Ross runtersteigen. Das erinnert schon fast wieder an christliche Demut.
Nur weil eine Idee im Christentum gebraucht wurde, bedeutet das ja noch nicht, dass sie deswegen auch dogmatisch und falsch ist. Warum ist christliche Kunst groß? Weil deren Interpreten es geschafft haben, durch das Vokabular des Christentums menschliche Urzustände wie Verzweiflung, Lust und Hoffnung auszudrücken. Es geht ja nicht darum, dass wir alle ideal werden. Sondern dass wir erkennen, dass wir Primaten sind, und Prozesse schaffen, in denen wir das sein können, ohne besonders grausam zu sein. Das geht aber nur, wenn wir unser Wesen in der Evolution erkunden. Zoologische Beobachtungen im 20. Jahrhundert haben fast immer den gegenteiligen Ansatz verfolgt, nämlich von menschlichen Gesellschaften auf die Tiere geschlossen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat man damit begonnen, zu beobachten, was man sieht. Ich hatte einen Hund, der lügen konnte.
Ihr Hund konnte lügen?
Er wusste, er durfte bestimmte Dinge nicht ins Haus nehmen, um sie zu fressen. Immer wenn ich ihn mit vollem Maul in der Wohnung erwischte, hielt er mit der Kaubewegung inne. Das heißt: Der Hund lebte in einem moralischen Universum. Wir lernen erst gerade, wie nahe uns Tiere stehen und wie sehr wir Teil der Natur sind. Wenn wir es schaffen, uns darin wiederzufinden, können wir auch wieder eine Geschichte mit Hoffnung erzählen.
In der Natur gibt es keine Fortschrittserzählung mehr. Es gibt nur Werden und Vergehen.
Das ist doch eine wunderbare Erzählung, mit der sich alle sterblichen Wesen auseinandersetzen müssen. Sie trifft im Unterschied zur Erzählung vom ewigen Mehr-Werden aber eben zu.
Das klingt schon fast buddhistisch.
Es ist auf jeden Fall zutiefst menschlich. Die Illusion des ewigen Wachstums ist ja nicht das, was wir erleben. Wir sehen, dass Menschen sterben, die wir lieben. Und dass Kinder geboren werden und alles wieder neu erleben. Das ist das Gesetz, in dem wir leben. Die Ambition wäre, dieses Gesetz intelligenter und tiefer zu erleben. Aber das führt uns weg von 5000 Jahren Kulturgeschichte.
In westlichen Gesellschaften fällt es schwer, sich vom Fortschrittsgedanken zu verabschieden.
Es ist wie in der Psychotherapie. Wenn man begriffen hat, warum man sich fühlt, wie man sich fühlt, heißt das noch lange nicht, dass man einen Weg gefunden hat, sich besser zu fühlen. Aber es gibt einem einen kleinen Hebel, um etwas zu verändern. Was kann ich ändern, damit das Leben sinnvoller ist, als ich es gerade erlebe? Das ist für mich eine konstruktive Frage.
Und für Sie persönlich ist Geige spielen ein Teil der Antwort?
Die Geige schafft eine reale Verbindung und fordert mich gleichzeitig heraus, meine Grenzen auszuweiten. Aber es könnte auch Marathonlaufen sein, Schachspielen oder Patisserie. Es ist nicht so wichtig, was man tut. Meine Geige ist 300 Jahre alt. Zehn Generationen haben sie schon in der Hand gehalten. Wenn ich zu ihr Sorge trage, werden es zehn weitere Generationen auch tun. Nehme ich diese Geige in die Hand, bin ich schon Teil eines Kontinuums durch die Zeit.
Und Sie schreiben Bücher. Wer liest denn heute noch Bücher?
Die Frage ist, ob wir uns geschlagen geben und uns alles aus der Hand nehmen lassen. Irgendwann sind die Chips eh im Gehirn, und dann müssen auch die Hände nichts mehr tun. Schließlich wird die Evolution unsere Hände auf zwei Daumen reduzieren. Das ist eine Zukunftsvision, auf die ich mich nicht freue.
Auf welche freuen Sie sich denn?
Ich freue mich, diese seltsame und viel zu kurze Zeit auf diesem Planeten so bewusst und so vielfältig wie möglich zu erleben. Und der Körper ist nun mal das einzige Instrument, um das erfahren zu können.