Mentale Karte mit Landmarken entwickelt sich früher als gedacht
Mentale Fixpunkte: Nicht nur bei Erwachsenen, sondern schon bei fünfjährigen Kindern ist eine spezielle, szenenselektive Hirnregion an der Orientierung und Navigation beteiligt, wie ein Experiment zeigt. Demnach repräsentiert und verarbeitet der retrospleniale Komplex (RSC) Standortinformationen von markanten Wegpunkten schon in der frühen Kindheit – nicht erst beim Übergang zur Jugend. Zusammen mit zwei zweiteren Hirnregionen unterstützt der RSC so die frühe Entwicklung der „kartenbasierten Navigation“.
Immer geradeaus, an der großen Kirche links und später hinter dem Baum auf dem Hügel rechts, dann sind wir am Ziel – wir Menschen sind in der Lage, von einem bestimmten Standort aus den Weg zu einem weiter entfernten Ort zu finden. Dafür orientieren wir uns an einer mentalen Karte unserer Umwelt. Unser Gehirn speichert dafür räumlich-geografische Informationen in speziellen Zellen ab.
Einige davon, die Rasterzellen, bilden eine Art neuronales Koordinatensystem – die eigentliche „mentale Karte“. Die Ortszellen im Hippocampus und der in der seitlichen Großhirnrinde liegende retrospleniale Komplex (RSC) ergänzen diese Karte durch gespeicherte Informationen zur Lage von markanten Landmarken wie einer Kirche oder einem Hügel. Zusammen ermöglicht es diese „kartenbasierte Navigation“, uns in unserer Umgebung zu orientieren und geeignete Routen zu wählen.
Wo stehen die Häuser der Dreiecks-Stadt?
Doch ab wann sind wir Menschen zu dieser Art der räumlichen Orientierung fähig? Können auch kleine Kinder schon Landmarken in ihre „mentale Karte“ integrieren? Dieser Frage sind Yaelan Jung und Daniel Dilks von der Emory University in Atlanta nachgegangen. Dafür untersuchten sie per funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) die Hirnaktivität von 16 Kindern im Alter von fünf Jahren, während diese sich in einer virtuellen Stadt zurechtfinden sollten.
Die Kinder hatten sich zuvor eine Karte dieser simplen Stadt angeschaut und sich mit den Gebäuden und der Landschaft vertraut gemacht. Jede Ecke des dreieckigen Stadt-Grundrisses wies dabei unterschiedliche Merkmale auf: Berge, einen See oder Bäume, jeweils umgeben von zwei Häusern. Während der Hirnscans zeigten die Forschenden den jungen Testpersonen Bilder von Gebäuden. Die Kinder sollten dann angeben, in welcher Ecke der Stadt diese liegen, und was für ein Haus es ist.
Ortung durch retrosplenialen Komplex schon bei Fünfjährigen
Die Auswertung ergab: Schon bei den Fünfjährigen ist der retrospleniale Komplex aktiv, wenn sich diese den Standort von Gebäuden in Erinnerung rufen. Je aktiver dieses Hirnareal war und je stärker markante Wegpunkte darin verzeichnet waren, desto eher fanden die kleinen Testpersonen auch den richtigen Gebäudestandort auf dem tatsächlichen Stadtplan – beispielsweise die Eisdiele am Berg und nicht die Eisdiele am See.
Demnach funktioniert der RSC bei den fünfjährigen Kindern bereits ähnlich wie bei Erwachsenen, so das Team. Das legt nahe, dass sich das neuronale System, das die räumliche Navigation in größeren Umgebungen unterstützt, bereits in der frühen Kindheit entwickelt und nicht wie oft angenommen erst bei Kindern über zehn Jahren.
Navigations-Unterstützung von weiteren Hirnregionen
Ergänzend dazu ergaben die Hirnscans und Ortungs-Experimente, dass bei den Kindern auch das zweite für das Landmarken-Merken wichtige Hirnareal bereits aktiv und entwickelt ist: der Ortsbereich des Parahippocampus (PPA). Dieser war immer dann aktiv, wenn sich die Kinder die Art und Kategorie des Gebäudes vorstellten, beispielsweise eine Eisdiele oder ein Feuerwehrhaus, unabhängig von deren Lage. Dasselbe passiert im Gehirn von Erwachsenen.
Der Parahippocampus ergänzt demnach beim Navigieren mit seinen Kategorie-Informationen die Standortinformationen im RSC. Beide Areale speichern jedoch ausschließlich die eine, nicht die jeweils andere Information. „Diese doppelte Dissoziation [der getrennten Informationsspeicherung] in RSC und PPA bei Fünfjährigen deutet darauf hin, dass sowohl RSC als auch PPA spätestens im Alter von fünf Jahren, wenn nicht sogar früher, bestimmten Funktionen im Bereich der Szenenverarbeitung zugeordnet sind“, erklären Jung und Dilks.
Unterstützt werden beide Areale – RSC und PPA – zusätzlich vom Hippocampus, der sowohl Informationen über den Standort als auch die Kategorie des gesuchten Gebäudes verarbeitet, wie die Forschenden ebenfalls anhand der Hirnscans feststellten.
Hirnareale von Kindern müssen erst noch reifen
Bis Menschen diese drei Hirnabschnitte effektiv kombinieren und zur Navigation nutzen können, müssen sie jedoch einige Jahre üben und ihre Gehirne reifen – einschließlich anderer Hirnareale für das Gedächtnis. „Die Fähigkeit von Kindern, Orientierungspunkte zu kodieren und zu nutzen, verbessert sich im Alter zwischen sechs und zehn Jahren und ist selbst im Alter von zehn Jahren noch nicht erwachsenenähnlich“, schreiben Jung und Dilks. Die Wegfindungsfähigkeiten entwickeln sich zudem erst mit etwa zwölf Jahren deutlich weiter.
Deswegen können erst Jugendliche anhand von Karten zuverlässig ihren Weg finden, wie frühere Verhaltensstudien schon gezeigt hatten. In Folgestudien wollen die Forschenden nun untersuchen, was genau im Gehirn passiert, wenn Kinder heranwachsen und ihre Navigationsfähigkeiten verbessern. Beispielsweise wollen sie herausfinden, ob sich RSC und PPA gleichzeitig oder zeitversetzt entwickeln. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2025; doi: 10.1073/pnas.2503569122)
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)