Das Ende der Nietzsche-Forschung?
Friedrich Nietzsche hat die akademische Philosophie leidenschaftlich verachtet – nicht ohne von ihren Erkenntnissen unbefangenen Gebrauch zu machen, sofern sie sich in seine eigenen Denkbewegungen einpassen ließen. Gelegentlich hat es den Anschein, als ob ihm die akademische Philosophie hierzulande das heimzahlen wolle. So unvermindert groß das Publikumsinteresse an Nietzsche auch ist, so wenig lässt sich mit ihm in der gegenwärtigen deutschen Universitätsphilosophie doch ein Blumentopf, geschweige denn eine Dauerstelle gewinnen. Eine ganze Generation von Nietzsche-Spezialistinnen und -Spezialisten, die im deutschsprachigen Raum Philosophie-Professuren bekleidet haben, ist mittlerweile in den Ruhestand getreten – und kaum eine(r) ihrer Nachfolgerinnen und Nachfolger betreibt ernsthaft Nietzsche-Forschung. Während weltweit die Nietzsche-Diskussion blüht, ist es in Deutschland nahezu unmöglich geworden, auch nur eine fachlich angemessen betreute philosophische Nietzsche-Dissertation zu schreiben.
Dabei ist dieses akademisch-philosophische Nietzsche-Desinteresse nur das Symptom einer generellen Abwendung von der eigenen Fachgeschichte: Philosophiegeschichtsschreibung gilt vielerorts als antiquiert und einer systematisch ambitionierten Philosophieverwaltungswissenschaft hinderlich: Ein wesentlicher Grund für diese Abwendung ist das gewaltige Irritationspotential, das frühere Denkbemühungen in die Gegenwart hineintragen könnten. Ahistorische akademische Philosophie, die sich mittlerweile so gern als reine Wissenschaft versteht, unternimmt eine Menge, Quellen der Irritation, die von anderem, fremden Denken ausgeht, versiegen zu lassen. Ob eine derartige irritationsfeindliche, aseptische und antiseptische Philosophie eine große Zukunft haben wird, muss sich zeigen.
Ein vielfältiger Nietzsche
Die Frage, was von Nietzsches Philosophie bleibe, ist mehrdeutig. Aus der Fülle der möglichen Bedeutungen will ich nur zwei herausgreifen. Die erste, nächstliegende, buchstabiert die Frage dahingehend aus, ob denn diese Philosophie für die Gegenwart oder gar die Zukunft noch eine Relevanz habe. Versteht man die Frage mit dem Akzent auf dem „bleibt“ als Frage nach der anhaltenden Bedeutsamkeit von Nietzsches Philosophie, schließt sich die Folgefrage an, was das Eigentliche und Wesentliche an Nietzsches Philosophie sei. Im Kern neigte die Forschung im 20. Jahrhundert dazu, Nietzsches Philosophie auf bestimmte Propositionen zu bringen und dann anhand dieser ‚Lehren‘ genannten Propositionen zu entscheiden, ob von Nietzsches Philosophie noch etwas bleibe. Bevor ich jedoch meinerseits eine davon etwas abweichende Antwort skizziere, sei die zweite mögliche Bedeutung der Frage, anders akzentuiert, in den Vordergrund gerückt: Was bleibt von Nietzsche Philosophie, wenn wir doch nur Nietzsches Texte haben, die bei genauer Betrachtung in unterschiedlichste Richtungen zu weisen scheinen?
Wer wie ich dank der Arbeit am Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften täglich mit Nietzsches Texten beschäftigt ist, hat es mit einem vielfältigen Nietzsche zu tun, der sich nicht umstandslos auf einen Nenner bringen lässt. Sonst ist der philosophische Interpret in einer ungleich komfortableren Lage: Er kann aus dem immensen Textkonvolut ‚Nietzsche‘ das herausgreifen, was ihm aus welchen Gründen auch immer das ‚Eigentliche‘ und ‚Wesentliche‘ zu sein scheint, um den Rest diesem ‚Eigentlichen‘ und ‚Wesentlichen‘ zu subsumieren. Aber mit welchem hermeneutischen Recht verfährt man so bei einem Autor, dessen Werk in so verschiedene Richtung zu weisen scheint? Was gibt dem Interpreten das Recht, aus dem Partikularen, beispielsweise den verstreuten Äußerungen über den ‚Willen zur Macht‘, die ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‘ oder den ‚Übermenschen‘, Schlussfolgerungen zum Ganzen von Nietzsches Philosophie zu ziehen? Wie legitimiert man einen derartigen Schluss?
Die Zurückhaltung des „Nietzsche-Kommentars“
Bei der Arbeit am Nietzsche-Kommentar haben wir nach und nach darauf verzichtet, dem Philosophen Nietzsche bestimmte Positionen fest zuzuschreiben. Dann hieße es beispielsweise nur noch, in Abschnitt 125 der Fröhlichen Wissenschaft trete ein „toller Mensch“ auf, der den Tod Gottes verkündige, anstatt zu sagen, Nietzsche habe in diesem Abschnitt den Tod Gottes verkündigt oder gar, seine Philosophie lehre den Tod Gottes. Konsequent ‚textologisch‘ oder ‚textistisch‘ wäre es nun, auf solche Zuschreibungen ganz zu verzichten und hinter den Texten den Philosophen Nietzsche und damit auch die Philosophie Nietzsches zum Verschwinden zu bringen. Nietzsche wäre für nichts verantwortlich; es gäbe kein Kontinuum, keinen Zusammenhang seines Denkens. Verbunden mit der Einsicht, dass wir nur Nietzsches schriftliche Hinterlassenschaften haben, nicht aber Nietzsches Denken (als Prozess) selbst, keine Innenansicht seines Kopfes, könnte eine an den Texten orientierte Beschäftigung ‚mit Nietzsche‘ dazu tendieren, ganz auf die Konstruktion von gedanklicher Kohärenz, auf die Konstruktion einer ‚Philosophie Nietzsches‘ zu verzichten. Damit aber geriete sie in den Ruch einer reinen Philologie, die philosophisch gänzlich uninteressant wäre.