Man könnte Daniel Kahneman als das Einhorn der Wirtschaftswissenschaften bezeichnen. Als Psychologe hatte er starken Einfluss auf Menschen, die den Homo Economicus kritisierten, eine Theorie, der zufolge unsere wirtschaftlichen Entscheidungen stets absolut rational sind. Stattdessen zeigte er auf, wie Menschen tatsächlich ihre Entscheidungen treffen. Seine Einblicke hatten nachhaltigen Einfluss und ebneten den Weg für das, was man heute unter Verhaltensökonomie versteht.
Wenn wir das System verstehen und formen möchten, so Kahneman, müssen wir zunächst die darin agierenden Menschen verstehen. Die langjährigen Weggefährten Amos Tversky und Kahneman widmeten ihre gesamte akademische Laufbahn den psychologischen Phänomenen rund um Urteils- und Entscheidungsfindung und sie haben eine neue Denkweise in Bezug auf menschliche Fehler, die auf Verallgemeinerungen und Vorurteilen beruhen, begründet.
Kahneman gilt als einer der wichtigsten lebenden Wirtschaftswissenschaftler, auch wenn er dies vehement bestreitet.
Daniel Kahneman
Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, 2002
Geburtsjahr: 1934, Tel Aviv, Israel
Fachgebiet: Psychologie, Wirtschaftspsychologie
Ausgezeichnetes Werk: Neue Erwartungstheorie, Integration kognitiver Psychologie in Wirtschaftsanalysen
Erste Schritte: Als Zehnjähriger verfasste er seinen ersten Aufsatz über die Psychologie von Religion
Das Geheimnis des Autors: Ihm gefällt sein
Bestseller «Schnelles Denken, Langsames Denken» nicht
Grundeinstellung: Zutiefst pessimistisch in Bezug auf alles
Ein Regentag in Manhattan
Wenn Sie einen Termin bei Kahneman ergattern, auf den Sie mitunter bis zu ein Jahr warten müssen, möchten Sie, dass einfach alles perfekt ist. Das heisst die Blumen, bequeme Sessel, das Mittagessen, selbst die Raumtemperatur. Als ich im strömenden Regen vor einem Hotel in Downtown Manhattan auf Kahneman warte und versuche, seine Limousine zu erspähen, klopft mir jemand auf die Schulter. «Hi, ich bin Daniel.» Und da steht er plötzlich vor mir in einem langen schwarzen Mantel und schüttelt seinen Regenschirm aus. Er ist zu Fuss unterwegs.
Glück ist eine Enttäuschung
Ein Taxi hätte bei diesem unschönen Wetter eventuell zu einem glücklicheren Ausgang geführt, aber Kahneman gesteht, die grösste Enttäuschung in seiner Karriere, zumindest in Bezug auf seine Forschungsarbeit, sei das Glück gewesen. «Ich hoffte damals stark, eine Sache zu finden», meint er und lässt damit Spannung aufkommen. «Aber wir stiessen auf das genaue Gegenteil.» Kahneman bezieht sich auf die Day Reconstruction Method (DRM), ein von ihm entwickeltes Verfahren, das noch heute eingesetzt wird. DRM untersucht, wie Menschen ihren Alltag verbringen und konzentriert sich dabei auf ihre Emotionen.
«Wir waren überzeugt, dass wenn wir uns dem Unterschied zwischen Lehrern in guten und Lehrern in schlechten Schulen widmeten, ein wesentlich stärkerer Unterschied bezogen auf die Emotionen und weniger auf die Zufriedenheit zu beobachten wäre», so Kahneman. «In Wahrheit traf aber das Gegenteil zu. Wir fanden heraus, dass Armut emotional belastend ist, aber über ein bestimmtes Mass an Armut hinaus lässt sich kein Unterschied mehr feststellen. Im Hinblick auf die Lebenszufriedenheit gilt jedoch: Je mehr man hat, desto zufriedener ist man mit seinem Leben.»
Kann eine einzige Frage offenbaren, was wir denken?
Im Allgemeinen ist Kahneman skeptisch in Bezug darauf, wie Umfragen zum Thema Glück strukturiert sind. Eine politische Frage gleich zu Beginn könnte zu einem insgesamt unbefriedigenden Ergebnis führen, und eine bestimmte Wortwahl kann den Gesprächsverlauf verändern.
Es geht nicht nur um die Frage an sich, sondern auch darum, wie sie gestellt wird
Können wir uns auf unsere Intuition verlassen?
Kahneman sah sich mit dieser Frage konfrontiert, als er in den 1950er Jahren in der israelischen Armee war. Ihm wurde bewusst, dass die Musterungsoffiziere sich bei ihrer Arbeit stark auf ihre Intuition verlassen. Seine erste Arbeit als Psychologe bestand darin, die Herangehensweise dieser Offiziere erheblich zu verbessern. Bis zum heutigen Tag findet das Ausleseverfahren, das sich hieraus ergab, weiterhin Anwendung. «Die Anweisung lautete, sich nicht um den allgemeinen Eindruck in Bezug auf eine Person zu kümmern, sondern spezifische, sehr detaillierte Fragen zu bestimmten Themen zu stellen», sagt er. Er erläutert die sechs Merkmale, die dabei bewertet wurden, einschliesslich Pünktlichkeit oder männlicher Stolz. Am Ende mussten alle Teilnehmer innehalten und ihre Gesamtbewertung aufschreiben.
«Intuition ist in Ordnung, aber man sollte sie nicht zu früh beanspruchen», so Kahnemann. «Das ist es, woran wir derzeit arbeiten. Wir erarbeiten auf genau die gleiche Weise Anweisungen für Menschen, die Entscheidungen in der Geschäftswelt oder Regierung treffen müssen. Es gilt, ein Problem in seine Elemente aufzuteilen und mit der Intuition bis zum Schluss zu warten.»
Wie sollten wir Entscheidungen innerhalb einer Gruppe treffen?
Wenn er über Studien spricht, die auf Urteilen basieren, verwendet er einen ausschlaggebenden Begriff: «Noise». «Urteile sind wesentlich weniger belastbar und viel störender rauschen mehr als die meisten Menschen denken», meint Kahneman. «Ich erachte diese Art Störgeräusche als unsichtbares Problem. Das Problem ist, dass sich Intuition immer gleich anfühlt, egal, ob zutreffend oder nicht.»
In Organisationen, die Kahneman als Fabriken für Entscheidungen und Urteile bezeichnet, ist es äusserst wichtig, diese Störgeräusche zu verringern. «Wenn Sie verschiedene Personen haben, die gemeinsam eine Entscheidung treffen sollen, besteht die Technik zur Reduzierung von Störgeräuschen darin, dass jeder seine Antwort vor der Diskussion aufschreibt», sagt er. «Ansonsten hat die erste Person, die das Wort ergreift, zu viel Einfluss.»
Warum gehen einige Menschen mehr Risiken ein als andere?
Es gibt noch eine weitere häufige Fehlerquelle bei der Urteils- und Entscheidungsfindung in Organisationen, die Kahneman als «inhärente Prädispositionen» bezeichnet.
Diese Menschen sind gewöhnlich auch risikobereiter. «Das sind Menschen, die Nägel mit Köpfen machen», so Kahneman. «Einige ihrer Entscheidungen haben Erfolg, das Umfeld denkt, dass sie über Wasser laufen können, und sie werden weiter befördert.»
Können wir unserem Urteil trauen, wenn wir Risiken ausgesetzt sind?
Um Entscheidungsfindungsprozesse zu verstehen, müssen die Menschen zunächst ihre eigenen Denkprozesse besser verstehen. Die Forschungsergebnisse von Kahneman, auf die er im weiteren Verlauf seiner Karriere als die zwei Systeme Bezug nehmen würde, hatten ihren Anfang mit einem Heureka-Moment in einem Labor, und zwar seltsamerweise mit einem Auge.
«Es handelt sich dabei um den mit Abstand besten Massstab für mentale Anstrengung», sagt Kahneman. Er ist überzeugt, dass das Auge mehr Aufschluss gibt als die Herzfrequenz, der Blutdruck oder die Hautleitfähigkeit, und er charakterisiert die Beobachtung der Pupille einer Versuchsperson als den «elegantesten Befund», in seiner Karriere. Stellte man ihr einer Person eine Frage, weiteten und verengten sich ihre Pupillen. Rein zufällig fiel Kahneman jedoch auf, dass nichts passierte, wenn sie sich einfach mit einer anderen Person unterhielt, die im Labor sass. «Eine Unterhaltung ist einfacher, als sich eine Telefonnummer merken zu müssen», meint er. «Von da an interessierte ich mich stark für den Aspekt der Anstrengung. Was ist anstrengend und was ist mühelos.»
Kahneman entwickelte später die zwei Systeme, mit denen er unser mentales Leben umschreibt. System eins beschäftigt sich mit dem mühelosen, intuitiven Teil unseres Denkens, während sich System zwei der Konzentration widmet, die Anstrengung erfordert. «Mein bevorzugtes Beispiel ist das Linksabbiegen im Strassenverkehr», erklärt er animiert. «Sie hören auf, sich zu unterhalten. Wenn Sie sich auf eine Sache konzentrieren, können Sie nicht gleichzeitig etwas anderes tun. System eins weist derlei Beschränkung nicht auf.» Denn wir lernen im Leben auf intuitive Art und wenden das so Gelernte auch an.
Was man in Bezug auf das eigene Denken wissen muss
Bei Entscheidungen haben wir die Wahl zwischen diesen Systemen. «Sie könnten laufen oder gehen», sagt Kahneman. «Unser mentales Leben ist wie langsames Gehen. Das mentale Leben ist grösstenteils einfach. Wir können uns konzentrieren, tun das aber nicht gerne und vermeiden es nach Möglichkeit.»
«Intelligente Menschen, die in der Lage sind, viele Probleme mühelos zu lösen, können es sich leisten, fauler zu sein», fügt er hinzu.
Wie sollten wir wichtige Entscheidungen treffen?
Kahneman teilt einige Ratschläge darüber, wie man wichtige Entscheidungen trifft. «Sie sollten innehalten und sich von einer besonderen Person beraten lassen. Jemand, der Sie mag, dem aber Ihre Gefühle nicht so wichtig sind. Diese Person dürfte Ihnen eher einen guten Rat geben.»
Die Annahme, Anleger seien rational, kann gefährlich sein
Kahneman weist auf die Tatsache hin, dass man bei Finanzentscheidungen äusserst vorsichtig sein muss. Er hält es für riskant, um nicht zu sagen brandgefährlich, wenn Menschen, die nur wenig über das Finanzsystem wissen, Entscheidungen darüber treffen sollen, in welche Aktien sie etwa für ihre Altersvorsorge investieren. «Da wird es schnell absurd», wirft er ein. «Die Annahme, dass individuelle Investoren rational sind. Das führt zu schwerwiegenden Fehlern.»
Mit der sogenannten Neuen Erwartungstheorie («Prospect Theory»), für die er den Nobelpreis erhielt, schlug Kahneman vor, unsere Denkweise über Entscheidungen in Bezug auf Risiken, insbesondere finanzieller Art, zu ändern. Zusammen mit Tversky fand er heraus, dass Menschen nicht in erster Linie vorausschauende Nutzenmaximierer sind. Vielmehr reagieren sie auf Veränderungen im Hinblick auf Gewinne und Verluste. «Gewinne und Verluste sind kurzfristig», sagt er. «Sie sind unmittelbare, emotionale Reaktionen. Das macht einen enormen Unterschied in Bezug auf die Qualität von Entscheidungen.»
Er argumentiert, dass die Menschen in Sachen Zukunft viel eher an die nahe als an die ferne Zukunft denken. Ein Perspektivenwechsel von Menschen, die langfristigen Wohlstand anstreben, zu Menschen, die den morgigen Tag ohne Verluste überstehen wollen, verändert unser Verständnis von Verhalten erheblich. «Menschen nehmen Verluste viel stärker wahr als Gewinne. Menschen hassen es, zu verlieren.»
Woher stammen politische Überzeugungen?
Als Psychologe untersucht Kahneman, wo unsere Überzeugungen herkommen. Insbesondere, wenn er die Nachrichten liest, wobei er mit religiösen Konflikten, Diskriminierung und den dramatischen Folgen politischer Entscheidungen konfrontiert ist, kehren seine Gedanken zur Psychologie der Einzelfragen zurück
Warum glauben die Menschen an diese Schlussfolgerungen? Zum Teil, weil die Menschen, die wir lieben und denen wir vertrauen, die gleichen Überzeugungen hegen. Kahneman bezeichnet dieses Phänomen als «emotionale Kohärenz», aber nicht in dem Sinne, dass solide Beweise angeführt werden. Das Verhalten bei politischen Wahlen sei emotional gesteuert, und eine der stärksten Emotionen ist die Wut. Sie führt dazu, dass sich die Menschen einen gemeinsamen Feind suchen.
Kahneman erzählt von seiner Kindheit in Paris, wo er während des Zweiten Weltkriegs als Jude aufwuchs. «Ich ging nach draussen, um mit einem Freund zu spielen und hatte meinen Pullover mit dem Judenstern an», sagt er. Er trug den Pullover verkehrt herum, um den Stern zu verstecken. «Ich sah einen deutschen Soldanten in schwarzer Uniform und wusste, dass das die absolut Schlimmsten waren», fährt er fort. «Wir gingen aufeinander zu und dann rief er nach mir. Ich hatte Angst, er könnte den Stern auf meinem Pullover bemerken, aber das war nicht der Fall. Er umarmte mich stattdessen und zeigte mir Fotos von einem kleinen Jungen. Und er gab mir sogar etwas Geld.»
Danach trennten sich ihre Wege, aber die Bedeutung dieser Begegnung ist ihm bis heute in Erinnerung. «Daran wurde ersichtlich, wie komplex Menschen doch sind. Er hätte mich ohne Weiteres getötet, aber in diesem Moment war er ganz einfach der Vater eines kleinen Jungen.»
Kahneman ist sich dessen bewusst, dass es selbst in der heutigen Gesellschaft kein historisches Gedächtnis gibt. Alle Seiten bedienen sich starker emotionaler Auslöser. Sie sprechen die Angst der Menschen an und lenken ihre Wut auf das Unbekannte.
Werden wir jemals aus der Geschichte der Menschen lernen und Fehler vermeiden?
Werden wir jemals in der Lage sein, die Fehler der Vergangenheit in Zukunft vermeiden zu können? Kahneman sagt, er sei ein ewiger Pessimist und nicht in der Lage, auf solche Probleme Antworten zu finden. Aber, wie er sagt, das ist auch nicht seine Aufgabe. «Ich bin nur Psychologe», so Kahneman. Er zieht sich seinen schwarzen Mantel wieder an, öffnet seinen Regenschirm und tritt wieder hinaus in den Starkregen. In diesem Kontext ist das definitiv keine Entscheidung aus Bequemlichkeit.
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