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Armut und Menschenwürde

Armut und Menschenwürde

„Armes reiches Deutschland“ – so betitelte die Süddeutsche Zeitung ihre Ausgabe zum ersten Märzwochenende dieses Jahres. In dem Aufmacher ging es um die rund 1,5 Millionen Menschen, die sich inzwischen an 940 Tafeln in Deutschland mit Lebensmitteln versorgen. An den Tafeln werden – wie zuletzt in Essen – auch die Verteilungskämpfe unter jenen augenfällig, die trotz acht Jahren Wirtschaftswachstum in Folge zu den materiell Deprivierten in Deutschland zählen. Allein die Zahl der Wohnungslosen beziffert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe im Jahr 2016 auf 860.000 und stellt damit einen Anstieg um rund 150 % seit 2014 fest. Für 2018 rechnet die AG nochmals mit einem Anstieg auf 1,2 Millionen.

In der öffentlichen Wahrnehmung verschärfen hohe Flüchtlingszahlen das Armutsproblem. Doch vor einer voreiligen Zuschreibung von Urheberschaft sei gewarnt: Empirisch gesehen lassen sich Kausalketten zur aktuellen Lage ebenso an der Sozial- und Steuerpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte festmachen – z. B. am massiven Rückgang des sozialen Wohnungsbaus von 2,87 Millionen Wohnungen im Jahr 1990 auf 1,15 Millionen im Jahr 2018 bei gleichzeitiger steuerlicher Entlastung von Kapitalgesellschaften, an Senkungen des Spitzensteuersatzes (bis 1.1.1990 lag der Spitzensteuersatz noch bei 56 %, 1995 bei 53 %, 2000 bei 51 % und seit 2005 liegt er bei 42 %), an dem Verzicht auf Vermögenssteuer und an einer vergleichsweise niedrigen Erbschaftssteuer. Und der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat bereits für das Jahr 2014 eine Armutsrisikoquote von 16,7% auf der Basis von EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions) ausgewiesen – deutlich vor der aktuellen Flüchtlingsproblematik. Das waren gut 13 Millionen Menschen mit einem Einkommen unterhalb von 60 Pro-zent des Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen. Aus den vielen Antezedenzbedingungen die Immigration als jüngste kausal hervorzuheben, setzt jedenfalls strittige normative Prämissen voraus.

Was aber ist eigentlich Armut?

Wer, sagen wir, gerade aus einem Kriegsgebiet wie dem Jemen mit derzeit 17 Mio. hungernden Menschen (60 % der Bevölkerung), aus Syrien mit 6,5 Mio. (33 %) oder der Ukraine mit 1,2 Mio, (26 %) nach Deutschland reist, wird andere Bilder des Elends vor Augen haben und unsere Armutsprobleme für handhabbar halten. Ähnlich dürften es Vertreter der großen Hilfsorganisationen einschätzen, wenn sie an die global rund 815 Mio. akut und chronisch Mangelernährten denken oder die 2,1 Milliarden Menschen, die immer noch ohne sauberes Trinkwasser auskommen müssen. In der vielschichtigen, tagespolitisch aufgeladenen Debatte über Armut kommen wir aber bei aller anschaulichen und bedrückenden Quantifizierung nicht um eine Bestimmung des Begriffs der Armut herum. Und die ist ebenso umstritten wie ihre Ursachen.

„Absolute“ und relative Armut

Grob gesprochen, lassen sich zwei Lager ausmachen: Vertreter des einen Lagers wollen als Armut nur gelten lassen, was gemeinhin als „absolute“ Armut bezeichnet wird. Da unklar ist, was genau hier „absolut“ bedeutet, spreche ich lieber von einem subsistenzbezogenen Armutskonzept. Danach gilt als „arm“, wer nicht in der Lage ist, seine (teils als unveränderlich angesehenen) Grundbedürfnisse aus eigener Kraft zu befriedigen. Diese Bedürfnisse können über physische hinaus auch solche an soziokultureller Teilhabe umfassen. Das andere, komparatistische Lager betrachtet Armut von vornherein als Fall sozialer Ungleichheit bzw. relativer Deprivation. „Arm“ bedeutet hier im Grunde stets „ärmer als …“.

Zum Subsistenzlager zählt der ehemalige Finanzsenator von Berlin, Thilo Sarrazin, der vor zehn Jahren einen „Hartz IV-Speiseplan“ vorgestellt hat, mit dem sich Arbeitslose für 3,76 Euro am Tag „völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren“ könnten. Iain Duncan Smith, seinerzeit britischer Minister für Arbeit und Pensionen, legte 2013 in einem BBC Interview nach: Er könne von £ 53 netto pro Woche gut leben – in London. Auch die jüngere Einlassung des amtierenden Gesundheitsministers Jens Spahn lässt sich subsistenztheoretisch deuten: „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. Diese Grundsicherung ist aktive Armutsbekämpfung! Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht.“ Die drei Politiker brachten ihre persönliche Vorstellung zum Ausdruck, was Armut nicht ist – und haben wie erwartet für Entrüstung im anderen Lager gesorgt. Spahn etwa wurden „Realitätsferne“ und „Überheblichkeit“ (Robert Habeck), „Arroganz“ (Sahra Wagenknecht) und „Kaltherzigkeit“ (Jan Korte) vorgeworfen. Gewiss, Sarrazin ließ seine Mitarbeiter Lebensmittel in günstigen Großpackungen kaufen, während Smith hoffnungslos unterschätzte, welchen Bedarf an Mobilität Arbeitssuchende in London haben – immerhin kostete schon Anfang 2014 eine „7 Day Travelcard“ für den Londoner Nahverkehr (Zonen 1 bis 6) £58.00. Und Spahn bekam von der streitbaren Linken-Politikerin Inge Hartmann vorgerechnet, dass er als Abgeordneter seit 2002 ebenfalls von Steuermitteln finanziert werde, aber auf ganz anderem Niveau.

Doch können sich Subsistenzvertreter auf einen traditionsreichen Armutsbegriff stützen, wie er bereits von den britischen Gründervätern der empirischen Armutsforschung, Charles Booth (1840-1916) und Benjamin Seebohm Rowntree (1871-1954), vertreten wurde. Beide fokussierten auf ein physisches Existenzminimum: „Was man zum Leben braucht“ entspricht nach diesem Verständnis dem, was die Reproduktion der Arbeitskraft verlangt. In Marktpreisen für Bedarfsgüter kalkuliert, lässt sich eine vergleichstaugliche Armutsschwelle („poverty line“) festlegen, die zur Identifikation von sogenannter „absoluter“ Armut ebenso dienen kann wie zur Bemessung möglicher Gegenmaßnahmen in Form von solidarisch zu tragenden Sozialleistungen – seien diese nun natural oder monetär.