Identifizierung der zuständigen Neuronen weckt Hoffnung auf bessere Medikamente gegen Reisekrankheit
Mechanismus der Reisekrankheit: Viele Menschen leiden unter Reiseübelkeit oder werden seekrank. Wie dies im Gehirn entsteht, haben Forschende nun aufgeklärt. Sie identifizierten bei Mäusen spezielle Neuronen, die die Übelkeit-erzeugenden Signale weiterleiten und verarbeiten. Doch auch bei uns Menschen sind diese Neuronen wahrscheinlich für das Unbehagen der Reisekrankheit verantwortlich. Ihre gezielte Blockierung durch Magenmittel könnte Reisekrankheit effektiver behandeln als bisher gängige Medikamente.
Schwindel, Frieren, Müdigkeit, kein Hunger und Übelkeit – diese Symptome kennen Millionen von Menschen, die unter See- oder Reisekrankheit leiden. Manche werden auch blass, schwitzen oder verspüren starke Schmerzen. Diese Beschwerden entstehen, wenn unser Gleichgewichtsorgan im Innenohr Bewegungen registriert, die nicht zu den Informationen passen, die wir über unsere Augen wahrnehmen. Das passiert häufig auf Auto-, Bus- und Zugreisen, aber auch in Flugzeugen und auf Schiffen, wenn sich das Fahrzeug bewegt und unsere Augen keinen Fixpunkt haben. Auch schwankende Gebäude können seekrank machen.
In der Folge fährt unser Kreislauf herunter und uns wird übel. Dahinter steckt wahrscheinlich ein evolutionär bewährter Mechanismus, der uns vor Vergiftungen schützen soll, vermuten Wissenschaftler. Auch bei vielen Tieren kommt das Phänomen vor, jedoch teils mit unterschiedlichen Symptomen.
Verarbeitung im Gehirn
Aber was passiert dabei in unserem Gehirn? Die Information, dass unser Gleichgewichts- und Sehsinn unterschiedliche Positionen wahrnehmen, leiten Nervenzellen in unser Gehirn weiter, wo sie im Thalamus und in den sogenannten Vestibulariskernen (Nuclei vestibulares) verarbeitet werden. Dass diese Hirnareale bei der Reisekrankheit eine wichtige Rolle spielen, ist schon länger bekannt. Auch legen frühere Studien nahe, dass weitere Hirnregionen und Nervenzellen beteiligt sind. Die Zusammenhänge sind bislang jedoch kaum erforscht.
Eine Forschungsgruppe um Pablo Machuca-Márqueza von der Autonomen Universität Barcelona hat dies nun anhand von Mäusen genauer untersucht. Dafür setzten sie die Tiere vier Mal für je eine Minute schnellen Drehungen auf einer Art Kreisel aus und beobachteten anschließend ihre Körperreaktionen. Parallel analysierten sie, was in den Gehirnen der Tiere passiert und welche Schaltkreise dort aktiv sind. Um therapeutisch relevante Nerventypen zu identifizieren, untersuchten sie auch, welche Gene in den Neuronen aktiv sind, die zu den Vestibulariskernen führen.
Mäuse werden nach Drehungen reisekrank
Und tatsächlich: Die Mäuse wurden infolge der Drehungen „bewegungskrank“. Sie zeigten typische Symptome von Reisekrankheit wie verminderten Appetit, eine um bis zu vier Grad niedrigere Körpertemperatur und bewegten sich deutlich weniger. Außerdem vermieden sie eine Zuckerlösung, die sie kurz vor den Drehungen noch begeistert aufgeleckt hatten. Die Forschenden nennen dieses Verhalten konditionierte Geschmacksvermeidung.
Die Analyse der Zellen im Gehirn der Tiere ergab, dass bestimmte Neuronen aktiv waren, wenn die Mäuse Symptome von Reisekrankheit zeigten. Einige dieser Nervenzellen exprimierten das Protein VGLUT2. Um zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang der Bewegungsübelkeit mit diesem Neuronentyp gibt, blockierten die Forschenden durch chemische Substanzen gezielt diese Gehirnzellen. Die Mäuse wurden daraufhin nach den Drehungen deutlich weniger reisekrank. Die meisten Symptome verschwanden, nur ihre Körpertemperatur sank dennoch.
Weitere Nervenzellen an Reisekrankheit beteiligt?
In einem weiteren Experiment machten Machuca-Márqueza und sein Team den Gegentest: Bei genetisch veränderten Mäusen aktivierten die Forschenden gezielt diese Neuronen durch einen Lichtstrahl. Tatsächlich rief dies bei den Mäusen ähnliche Symptome hervor, wie nach der Rotation auf dem Kreisel, einschließlich einer verringerten Körpertemperatur.
Die Wissenschaftler schließen daraus, dass diese VGLUT2-haltigen Nervenzellen für das Auslösen der Beschwerden der Reisekrankheit erforderlich sind. Sie gehen jedoch davon aus, dass es noch weitere Nervenzellen gibt, die daran beteiligt sind. Machuca-Márqueza und seine Kollegen untersuchten daher in weiteren Analysen andere Eigenschaften der beteiligten Nervenzellen.
Rezeptor-haltige Neuronen im Fokus
Unter anderem untersuchten sie Nervenzellen, die nicht nur das Protein VGLUT2, sondern auch das Cholecystokinin-Gen exprimieren. Dieses kodiert für den Rezeptor CCK-A. Um dessen Rolle bei Reiseübelkeit zu untersuchen, führten die Wissenschaftler analoge Experimente durch wie bei den VGLUT2-haltigen Neuronen: Sie blockierten einerseits die Zellen durch eine chemische Substanz und aktivierten sie im Gegentest durch Licht.
Bei den so behandelten Tieren beobachteten sie ebenfalls entsprechend unterdrückte oder aktiv hervorgerufene Symptome der Bewegungskrankheit. „Die Mäuse, denen wir ein Medikament verabreichen, das den CCK-A-Rezeptor blockiert, zeigen weniger Symptome der Reisekrankheit sowie eine geringere Aktivierung des parabrachialen Kerns“, berichtet Ko-Seniorautorin Elisenda Sanz von der Autonomen Universität Barcelona.
Beteiligtes Hirnareal identifiziert
Daraus schließen die Forschenden, dass die Untergruppe an CCK-A-haltigen Neuronen mit an der Entstehung von Reisekrankheit beteiligt ist, indem sie die Bewegungssignale an den sogenannten parabrachialen Nukleus im Gehirn weiterleitet. Das erklärt auch die Reiseübelkeit. Denn dieser Bereich ist bekanntermaßen bei Tieren und uns Menschen an der Verarbeitung des Geschmackssinns und der Regulation des Appetits beteiligt sowie für die Erzeugung unangenehmer Empfindungen verantwortlich. Außerdem steht er in Zusammenhang mit Angstzuständen und Lethargie und reguliert die Körpertemperatur.
Ob die beiden identifizierten Signalwege über VGLUT2-haltige und CCK-haltige Nervenzellen sich gegenseitig kompensieren und ob es weitere Signalwege gibt, müssen weitere Studien zeigen. Das Team um Machuca-Márqueza hält dies für möglich, weil sich die Beobachtungen hinsichtlich der Körpertemperatur teils widersprechen.
Bessere Medikamente gegen Reisekrankheit möglich
Da Bewegungskrankheit nachweislich in vielen Säugetieren vorkommt, gehen Machuca-Márqueza und seine Kollegen davon aus, dass ihr an Mäusen entdeckter Mechanismus auch bei uns Menschen vorkommt und ihre Erkenntnisse übertragbar sind. Damit liefern die Ergebnisse nicht nur neue Einblicke in die neurobiologische Regulierung von See- und Reisekrankheit, sondern könnten auch helfen, diese besser zu behandeln.
Gängige Medikamente gegen Reisekrankheit sind Antihistaminika, die auch gegen Allergien eingesetzt werden. „Sie wirken auf das histaminerge System und verursachen Schläfrigkeit. CCK-A-Rezeptorblocker haben diese unerwünschte Wirkung nicht, sodass sie eine hervorragende Option zur Behandlung der Reisekrankheit wären“, sagt Ko-Seniorautor Albert Quintana von der Autonomen Universität Barcelona. Solche Medikamente existieren bereits und sind von der amerikanischen und der europäischen Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA und EMA) zur Behandlung von Magenproblemen zugelassen.
Um eine Zulassung der CCK-A-Rezeptorblocker auch für andere Beschwerden wie die Reisekrankheit zu beschleunigen, wollen die Forschenden in weiteren Studien untersuchen, ob diese Nervenzellen auch bei anderen Formen von Schwindelbeschwerden eine Rolle spielen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2304933120)
Quelle: Autonome Universität Barcelona, Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)