Genialer Computerpionier und tragischer Held
Er gilt als einer der Väter des Computers, als Bezwinger des Enigma-Geheimcodes und als vergessenes Genie der Mathematik: Alan Turing wurde am 23. Juni 1912 geboren. Seine Konzepte und Erkenntnisse haben das Denken und die Technik seiner und unserer Zeit entscheidend beeinflusst.
Turing war der erste, der eine Maschine mit getrennter Hard- und Software konzipierte. Damit erfand er das Grundprinzip aller heutigen Rechner – vom Smartphone bis zum Supercomputer. Bereits 1936 stellte sich Turing auch als erster die Frage, wie ein Intelligenztest für einen Computer aussehen könnte und entwickelte wichtige Grundlagen für die Forschung zur künstlichen Intelligenz. Den nach ihm benannten Turing-Test hat allerdings bis heute kein Rechner bestanden.
Während des Zweiten Weltkriegs trug Turing entscheidend dazu bei, dass die Alliierten die berühmten Enigma- Codes der deutschen U-Boot-Flotte entziffern konnten. Er half dabei, die „Bomben“ – spezielle Entschlüsselungsmaschinen – zu konstruieren, die die chiffrierten Befehle in Klartext umwandelten. Dadurch konnten Schiffskonvois rechtzeitig vor U-Boot-Angriffen gewarnt werden.
Von seinen Verdiensten ums Vaterland und die Technikentwicklung hatte der geniale Mathematiker allerdings nicht viel: Weil er homosexuell war und darin nichts Falsches sah, wurde er wegen Unzucht angeklagt und verurteilt. Er willigte zwar in eine Hormonbehandlung ein, um dem Gefängnis zu entgehen, beging aber zwei Jahre später, 1954, Selbstmord. Mit nur 42 Jahren starb damit einer der genialen Denker seiner Zeit – diskriminiert, seines Ruhms beraubt und lange Zeit vergessen.
Ein britischer Mathematiker legt den Grundstein für alle heutigen Computer
Die universelle Turing-Maschine
Ob Smartphone, Notebook oder Supercomputer – all diese Rechner funktionieren nach dem gleichen Grundprinzip: Ihre Hardware liefert die elektronische Grundlage, die Software aber bestimmt, welche Aufgaben der Rechner gerade bearbeitet – ob beispielsweise mathematische Kalkulationen, Textverarbeitung oder das Rendern einer Grafik. Eine Hardware kann – je nach Software – daher ganz verschiedenen Zwecken dienen. Diese Zweiteilung ist es letztlich, die den Computer zu einem so universellen Werkzeug macht.
Ein Band, ein Programm und ein Schreib-Lese-Kopf
Erdacht hat dieses Prinzip kein anderer als der britische Mathematiker Alan Turing. Mit seiner „Universellen Turing-Maschine“ entwickelte er es bereits 1936 – zu einer Zeit, als Computer im heutigen Sinne noch nicht einmal ansatzweise existierten. Turing stützte sich bei seinem Konzept allein auf Logik und Mathematik und ersann die erste Idee einer programmierbaren Maschine. Seine Turing-Maschine besteht im Prinzip aus nichts anderem als einem Schreib-Lese-Kopf, einem endlos langen Speicherband mit einzelnen, jeweils ein Zeichen enthaltenden Feldern und einer Arbeitsanweisung.
„Das Band läuft durch die Maschine und ist in klare Sektionen geteilt, jede kann ein Symbol enthalten. Zu jeder Zeit ist aber immer nur ein Feld in der Maschine und wird gescannt“, erklärt Turing in seiner Veröffentlichung „On computable Numbers“. Die Arbeitsanweisung gibt dem Schreibkopf die Anweisung, ob er sich ein Feld vor oder zurück bewegen soll. Sie bestimmt auch, ob er das im aktiven Feld stehende Zeichen auf dem Band löschen, stehen lassen oder es durch ein anders ersetzen soll. „Der Fortschritt der Arbeit und der Status des Computers ist zu jeder Zeit allein durch die Arbeitsanweisung und die Symbole auf dem Band bestimmt“, schreibt Turing.
Eine Maschine für alle Aufgaben
„Damit verkörperte diese Maschine bereits das essenzielle Prinzip eines Computers: einer einzigen Maschine die jede definierte Aufgabe übernehmen kann, indem sie ein entsprechendes Programm erhält“, erklärt Andrew Hodges, Mathematiker der University of Oxford und Autor der bisher umfassensten Biografie Turings. Und ähnlich wie bei heutigen Computern sieht Turing bereits vor, dass komplexere Symbole und Aufgaben über eine Abfolge von einfachen, grundlegenden Schritten dargestellt werden können.
Ausgehend von dieser Idee entwickelt zehn Jahre später der Mathematiker John von Neumann die Rechnerarchitektur, auf der heute so gut wie alle modernen Computer beruhen: Das Programm und die von ihm verarbeiten Daten liegen binär kodiert im selben Speicher. Die Arbeitsanweisungen können dadurch im laufenden Rechenvorgang verändert werden. „Die Worte, die die Anweisungen kodieren, werden im Speicher wie Zahlen behandelt“, erklärt von Neumann 1945.
EDVAC und ACE – die ersten elektronischen Turing Maschinen
Von Neumann beginnt damals gerade damit, im Auftrag des US-Militärs eine elektronische Version von Turings universeller Maschine zu konstruieren, den „Electronic Discrete Variable Automatic Computer“ (ECVAC). Mit diesem Rechner kommt er Turings eigener Konstruktion, der Automatic Computing Engine (ACE) knapp zuvor. Turing hat das Konzept für die ACE zwar bereits 1946 fertig, die Konstruktion des Prototyps dauert jedoch bis 1950. Dann allerdings ist seine Version der universellen Turing Maschine mit einem Megahertz Taktrate für kurze Zeit der schnellste Rechner der Welt.
Seither sind mehr als 60 Jahre vergangen, aber noch immer steckt in jedem unserer Rechner die von Neumann modifizierte Turing-Maschine. „Jeder, der heute auf einer Computertastatur tippt, eine Tabellenkalkulation oder ein Word-Dokument öffnet, arbeitet auf einer Reinkarnation einer Turing-Maschine“, schrieb das Time Magazine im Jahr 1999, das Alan Turin unter die 100 wichtigsten Menschen des 20. Jahrhunderts wählte.
Turing als Codeknacker im Zweiten Weltkrieg
Enigma
Alan Turing war nicht nur Computerpionier – er war auch einer der wichtigsten Codeknacker des Zweiten Weltkriegs. Sein Name ist heute nahezu untrennbar mit „Enigma“ verbunden – der berüchtigten Chiffriermaschine, mit der das deutsche Militär ihre Funksprüche unter anderem an die U-Boot-Flotte verschlüsselte.
Herzstück der Enigma waren drei, später vier drehbare Walzen mit den 26 Buchstaben des Alphabets. Gibt man einen Buchstaben ein, werden die Walzen entsprechend ihrer elektrischen Verkabelung auf bestimmte Weise gegeneinander verdreht. Daraus ergibt sich der verschlüsselte Buchstabe. Da sich die Position der Walzen bei jeder Eingabe ändert, wird ein „E“ selbst innerhalb eines Textes jedes Mal als anderer Buchstabe verschlüsselt. Für jede Nachricht setzten die deutschen Verschlüsseler zudem die Walzen in einer jeweils neuen Konfiguration in die Enigma ein, dadurch änderte sich die Chiffrierung ständig und war mit herkömmlichen Entschlüsselungsalgorithmen nicht zu knacken.
Mit der „Bombe“ gegen den Enigma-Code
Den Durchbruch schaffte erst Alan Turing, der ab 1939 in Bletchley Park arbeitete, dem geheimen Hauptquartier der britischen Codeknacker während des Krieges. Auf Basis eines einfacheren Vormodells, das polnische Mathematiker konstruiert hatten, entwickelte Turing eine elektromechanische Maschine, die sogenannte „Bombe“. Das wegen ihres tickenden Geräuschs so benannte Gerät engte die möglichen Lösungen einer Enigma-Chiffre auf nur noch ein paar ein.
Eine Bombe bestand aus Dutzenden von drehbaren Trommeln mit Buchstaben, die die verschiedenen denkbaren Positionen der Enigma-Rotoren nachvollzogen. Ausgangspunkt der Dechiffrierung war dabei immer ein kleines Stück des Codes, meist nur ein Wort, von dem die Entschlüsseler raten konnten, was es im Klartext bedeutete. Die Anhaltspunkte dafür lieferten ihnen meist die festen Gewohnheiten der deutschen Funker: So wurde beispielsweise immer zur gleichen Tageszeit ein Wetterbericht gesendet – in dem an immer der gleichen Stelle das Wort „Wetter“ vorkam. Ein Funker des Afrika-Corps übermittelte dagegen meist die immer gleiche Formulierung: „Nichts zu berichten“ nach Berlin.
„Zweifellos der entscheidende Faktor“
Ausgehend von diesen Codeschnipseln kalkulierte die Bombe die 17.576 möglichen Positionen eines Enigma-Walzensets in rund 20 Minuten. Da viele Positionen unmöglich oder sehr unwahrscheinlich waren, konnte sie nach und nach viele davon eliminieren. Turing hatte das diesem Verfahren zugrundeliegende statistische Prinzip erstmals auf die Kryptoanalyse angewandt. „Niemand hat einen Zweifel daran, dass Alan Turings Arbeit der größte Faktor für den Erfolg von Hut 8 war“, erklärt später Hugh Alexander, der Turing als Leiter dieser für die Enzifferung der Enigma-Marinecodes eingeteilten Abteilung ablöste.
Der Erfolg des „Hut 8“-Teams war nach Ansicht der meisten Historiker kriegsentscheidend. Turing wurde als Dank für seine Verdienste 1945 der Order of the British Empire (OBE) verliehen, quasi das britische Äquivalent eines Bundesverdienstkreuzes. Bis in die 1970er Jahre hinein aber blieb Turings Rolle in Bletchley Park geheim. Er selbst hatte daher wenig von seinem heutigen Ruhm als „der“ Codeknacker des Zweiten Weltkriegs.
Der Turing-Test und die Intelligenz von Computern
Kann eine Maschine denken?
Es ist der 11. Mai 1997. Ein Datum, das in die Technikgeschichte eingehen wird. Denn im 35. Stock eines New Yorker Wolkenkratzers spielt sich ein historisches Duell ab: Mensch gegen Maschine. Der Mensch: Garri Kasparow, amtierender Schachweltmeister. Die Maschine: Deep Blue, ein von IBM entwickelter Schachcomputer. Nach sechs Spielen ist das Ergebnis klar: Der Computer hat den Schachmeister besiegt. Zum ersten Mal hat damit Maschinen-Intelligenz über den menschlichen Geist triumphiert. Aber ist Deep Blue deshalb schon intelligent?
Deep Blue: Rechengigant mit engen Grenzen
„Deep Blue ist kein lernendes System. Es kann seine künstliche Intelligenz nicht nutzen, um von seinem Gegner zu lernen und auch nicht, um seine aktuelle Position auf dem Schachbrett nachzudenken“, erklärt IBM auf ihrer Website. Der Vorteil des Schachcomputers war vor allem seine reine, brutale Rechenkraft: Deep Blue konnte 200 Millionen mögliche Schachzüge pro Sekunde kalkulieren und ermitteln, wie sie den weiteren Ablauf der Partie beeinflussen würden. Er schöpfte zudem aus einer umfangreichen Datenbank zuvor eingespeicherter Partien, die er zuverlässig abrufen konnte – unbeeindruckt von Stress oder anderen Faktoren.
Aber wie intelligent ist Deep Blue damit? Reicht es schon aus, in einem eng umgrenzten Feld – dem Schach – überragend zu sein? Wie lässt sich Intelligenz bei einem Rechner überhaupt ermitteln oder definieren? Genau diese Frage stellte sich auch schon Alan Turing im Jahr 1950, knapp ein halbes Jahrhundert vor Deep Blue.
Intelligent muss das sein, was herauskommt
Für Turing war klar: Nicht die Art und Weise, mit der Gehirn oder Prozessor zu ihren Ergebnissen kommen, ist entscheidend, sondern ob das, was herauskommt, intelligent ist. „Es interessiert uns nicht, dass das Gehirn die Konsistenz von kaltem Porridge hat, der Rechner aber nicht“, so Turing 1952 in einem Radiosendung. Auch dass das Gehirn chemische Signale austausche, der Rechner rein elektrisch arbeite, sei unwichtig.
Aufbauend auf diesem Gedanken entwickelte Turing den ersten Intelligenztest für Maschinen, den heute nach ihm benannten Turing-Test. Sein Prinzip ist dabei verblüffend einfach: Kann ein Mensch in einem Dialog mit einem für ihn unsichtbaren Partner nicht unterscheiden, ob ihm ein Mensch oder ein Computerprogramm antwortet, dann muss das Programm als intelligent gelten. Für Turing zählt damit letztlich schon die überzeugende Imitation von Intelligenz als Intelligenz.
So simpel der Turing-Test auch klingt – bisher hat kein Rechner ihn bestanden. Der Hauptpreis des jährlich stattfindenden Wettbewerbs für Maschinenintelligenz, immerhin 100.000 US-Dollar, ist noch immer unangetastet. So schlägt sich beispielsweise Brian, ein in Australien entwickeltes Dialogprogramm, bei einigen Standardfragen ganz wacker, scheitert dann aber an einer scheinbar völlig normalen Folgefrage:
Mensch: Gefällt dir das Wetter in Australien?
Brian: Es ist in Ordnung.
Mensch: Schneit es dort im Winter?
Brian: Nein, habe ich leider nicht.
Spätestens jetzt ist klar, dass Brian entweder überhaupt nicht bei der Sache ist oder aber eben nicht menschlich – ein Computer. Aber was macht den Turing-Test für die Rechner so schwer?
Sprechen und Verstehen wie ein Mensch
Computergehirne spielen Jeopardy
Wenn Rechner am Turing-Test scheitern, scheitern sie damit am Grundlegendsten überhaupt: An der menschlichen Sprache mit all ihren Nuancen und scheinbaren Widersprüchen. Das Verstehen von Sprache gilt nicht umsonst als Königsdisziplin der Maschinenintelligenz. Denn es geht um mehr als nur die lexikalische Bedeutung von Wörtern wie etwa „Hund“ oder „Länderfinanzausgleich“. Sprache zu verstehen bedeutet auch, Assoziationen zu erkennen, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können und auch den Sinn von Ironie, Witzen oder Wortspielen richtig zu dekodieren.
Im Februar 2011 hat im amerikanischen Fernsehen erstmals ein Computer seinen Auftritt, der all dies offenbar beherrscht. Denn der von IBM konstruierte Rechner Watson besiegt Ken Jennings und Brad Rutter, zwei erfahrene menschliche Champions, im Ratespiel „Jeopardy!“. (link zu einem Film von IBM darüber)
„Das war ein Sargnagel für die Überlegenheit der menschlichen Intelligenz“, kommentiert der britische Neurowisssenschaftler Dennis Bray den Sieg von Watson. Denn der Computer habe diesmal nicht in Mathematik oder einer so starren Regeln und Formen unterworfenen Disziplin wie dem Schach gewonnen, sondern in einem Spiel, in dem etwas so hochkomplexes wie die Sprache im Mittelpunkt stehe.
Sprachwitz und Verklausulierungen inklusive
Bei Jeopardy müssen die Kandidaten aus einer Antwort, beispielsweise: „Sie sind die drei Objekte, die im olympischen Zehnkampf geworfen werden“ die korrekte, zugehörige Frage erraten: „Was sind Diskus, Speer und Kugelstoßen?“. Die Fragen kommen dabei aus unterschiedlichen Kategorien, erraten werden muss ohne die Hilfe von vorgegeben Multiple Choice-Antworten. Erschwerend kommt hinzu, dass bei diesem Quiz Wortspiele und Sprachwitz eine große Rolle spielen. Die eigentliche Aufgabe muss quasi erst dekodiert werden. „Farbige Plage des 14. Jahrhunderts, die zu einem Erfolgsstück von Arthur Miller wurde“, lautet beispielsweise eine besonders verklausulierte Jeopardy-Aufgabe. Die korrekte Antwort: „Was ist der Schwarze Tod eines Handlungsreisenden?“.
„Der einzige Weg, um auf diese Antwort zu kommen, ist es, Informationsbrocken aus verschiedenen Quellen zusammenzufügen. Denn die exakte Antwort steht nirgendwo“, beschreibt IBM das Problem auf ihrer Watson-Website. Im konkreten Beispiel muss ein Kandidat den Titel des Theaterstücks „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller kennen, er muss wissen, dass die Pest den Beinamen „der Schwarze Tod“ trug und dann beides halbwegs sinnvoll kombinieren.
Interner Wettbewerb der möglichen Lösungen
Watsons Software „DeepQA“ löst diese Anforderung durch zahleiche parallel und nacheinander geschaltete Lösungsschritte. Zunächst wird die Frage analysiert und ermittelt, nach welcher Kategorie – Personen, Gebäude, Filmtitel etc. – gesucht wird. Dann suchen hunderte verschiedener Algorithmen im gewaltigen Informationsspeicher nach möglichen Antworten. Um ihn zu füllen, fütterten die IBM-Ingenieure den Rechner mit Millionen von Dokumenten, angefangen von der kompletten Wikipedia und anderen Enzyklopädien, religiösen, philosophischen und literarischen Texten und anderem Referenzmaterial. Aus diesem Fundus erzeugt die Software hunderte potenzieller Antworten, die dann nach bestimmten Kriterien bewertet, gegeneinander abgewogen und dabei immer weiter eingeengt werden. Am Schluss äußert Watson die Antwort, die die höchsten Werte in diesem internen Wettbewerb erhalten hat.
„Das Ziel war dabei nie, das menschliche Gehirn nachzuahmen“, sagt David Ferrucci von IBM. „Das Ziel war es, einen Computer zu bauen, der natürliche Sprache versteht und in ihr interagieren kann – aber nicht notwendigerweise auf die gleiche Art wie der Mensch.“ Damit schließt sich der Kreis zu Turing und den Anfängen des Mensch-Maschine-Problems: Es zählt das Ergebnis und die Interaktion, nicht die Methode.
„Wenn Alan Turing das Transcript dieser Jeopardy-Sendung lesen würde, hätte er dann den Computer erkannt?“, fragt Bray provokant. Seiner Ansicht nach ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Turing-Test geknackt wird – möglicherweise sogar von einer verbesserten Version Watsons.
Sonnenblumen, Zebrastreifen und Turings Morphogene
Das Geheimnis der Musterbildung
Woher weiß die Sonnenblume, wie sie ihre Kerne anordnen soll? Und woher die Zellen eines Embryos, wo sie Beine, Arme oder den Kopf bilden sollen? Zu Turings Zeiten, Anfang der 1950er Jahre, ist diese Frage ein altbekanntes, aber ungelöstes Problem. Noch hundert Jahre zuvor glaubte man, dass in jedem Samenkorn und in jeder tierischen Keimzelle eine winzige fertige Kopie des späteren Organismus steckt. Eine befruchtete Eizelle wäre demnach nichts anderes als ein „Homunculus“ – ein kleiner Mensch. Wächst der Organismus heran, vergrößert sich dieses Abbild einfach nur und schon sitzt alles am richtigen Fleck.
Das Aus für den Homunculus
Ende des 19. Jahrhunderts allerdings torpediert der deutsche Biologe Hans Driesch diese Vorstellung. Er untersucht befruchtete Eizellen des Seeigels unter dem Mikroskop. Als diese sich teilen und das Zweizellstadium erreichen, trennt er beide Zellen und beobachtet, ob und wie sie sich weiterentwickeln. Seine Überlegung dabei: Sollte sich in der Keimzelle eine Art Homunculus befinden, müsste dieser durch die Trennung in zwei Hälften geteilt werden. Ergo müssten die resultierenden Tiere unvollständig sein. Stattdessen aber entstehen aus den beiden getrennten Seeigelzellen zwei vollständige Einzeltiere.
Für Driesch ist damit klar, dass sich der Körper eines Tieres in seiner ganzen Komplexität aus einer undifferenzierten, sogar austauschbaren Zelle entwickeln kann. Aber wie? „Dieses intellektuelle Problem schien so hoffnungslos, dass der große Entwicklungsbiologe Driesch sogar deswegen die Forschung aufgab und sich der Philosophie zuwandte“, schreibt John Reinitz, Zellbiologe der University of Chicago, in einem Kommentar in der „Nature“. Die damalige Biologie und auch die angewandte Mathematik kannte bis zu diesem Zeitpunkt nur lineare Differentialgleichungen – Handwerkzeug, mit dem sich ein Muster zwar erweitern oder vervielfältigen lässt, das aber rechnerisch nicht erklären kann, wie ein Muster neu entsteht.
Diffusion und das Geheimnis der Morphogene
In diese Lücke stößt 1950 Alan Turing, der inzwischen an der Universität von Manchester arbeitet. Er versucht mathematisch nachzuvollziehen, wie sich der molekulare und mechanische Status des Embryos von einem Schritt zum nächsten wandelt. Seiner Ansicht nach muss es dabei chemische Moleküle geben, die „Morphogene“, wie Turing sie tauft, die die Zellen und Gewebe dazu bringen, sich in eine bestimmte Richtung zu differenzieren. Die Verteilung dieser Morphogene wird, so postuliert er, durch Diffusion bestimmt. Ohne Diffusion ist das System stabil und homogen, mit Diffusion aber wird es instabil und formt räumliche Muster.
„Turings Ansatz enthält einen mathematischen Trick“, erklärt Reinitz. „Er erzeugt ein nicht-lineares System, indem er die Diffusion als formenden Faktor einführt.“ Diese Diffusion wirkt aber in Turings Gleichung nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Stellen. Dadurch entstehen Muster statt einfach nur eines verwischten Durcheinanders. Turings 1952 erscheinende Veröffentlichung „Die chemische Basis der Formbildung“ ist ein Meilenstein der Entwicklungsbiologie – und der Computersimulation. Denn der Mathematiker beschreibt darin auch, wie er Computermodelle nutzt, um die Musterbildung experimentell nachzuvollziehen.
„Turing gebührt der Ruhm, die Tür zu einer völlig neuen Sicht der Entwicklungsbiologie geöffnet zu haben „, meint Reinitz. Er sei damals seiner Zeit weit voraus gewesen. Tatsächlich sollte es noch rund 30 Jahre dauern, bis Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus Turings Theorie experimentell belegen können: An der Fruchtfliege Drosophila weisen sie nach, wie die Gene die Embryonalentwicklung und die Bildung der Körperteile im Fliegenembryo steuern. Letztlich haben sie damit nichts anders entdeckt als die biologische Entsprechung für Turings „Morphogene“.
Vom verschrobenen Genie zum Ausgestoßenen
Der Mensch Turing
Turing war nicht nur ein genialer Mathematiker und innovativer Forscher, er war auch der Mann, der seine Teetasse an die Heizung kette, damit sie ihm nicht gestohlen wurde. Oder der beim Fahrradfahren eine Gasmaske trug, um sich vor umherfliegenden Pollen zu schützen. Turing, dem einige Forscher heute bescheinigen, er habe Züge des Asperger-Syndroms gehabt, war in vielen alltäglichen Dingen so verschroben und unbeholfen, wie er genial in seiner Wissenschaft war.
Der Wissenschaftler war zudem an den ungelösten Problem von Mathematik, Technik oder auch Biologie weitaus mehr interessiert als an sinnvollen Karrierestrategien. Daher vernachlässigte Turing auch eine der Grundregeln der heutigen, aber auch schon damaligen wissenschaftlichen Arbeit: „Publish or perish“ – veröffentliche oder gehe unter. Das zumindest meint Andrew Hodges, Mathematiker an der University of Oxford und Autor der Biografie Alan Turings.
„Er hat in wissenschaftlichen Journalen nie berichtet, dass er schon 1945 herausgefunden hatte, wie er seine universelle Maschine von 1936 in einen praktisch anwendbaren elektronischen Computer umsetzen kann“ so Hodges. Auch seine umfangreichen Computerpläne der Jahre 1946 bis 1948 seien zunächst unveröffentlicht geblieben – eine ungenutzte Chance, seine Rolle für die Entwicklung der ersten Computer festzuschreiben. Viele Schriften Turings wurden allerdings auch wegen seiner geheimen Tätigkeit für die britische Regierung erst Jahrzehnte nach Kriegsende freigegeben und veröffentlicht.
In den Tod getrieben
Das allein ist aber nicht der Grund, warum Turing von seinen Verdiensten – sei es für die Computertechnik, die Entschlüsselung der Enigma-Codes oder die Morphogenese – kaum etwas hatte. Warum er jahrzehntelang fast vergessen war und höchstens unter „ferner liefen“ in den Geschichtsbüchern auftauchte. Und warum er schon mit 42 Jahren starb – von eigener Hand. Am 8. Juni 1954 fand ihn seine Putzfrau tot in seinem Haus in Wilmslow in der Nähe von Manchester. Neben seinem Bett lag ein halb gegessener Apfel, der wahrscheinlich mit dem tödlichen Gift Zyanid versetzt war.
In diesen Tod getrieben wurde Turing letztlich von den Vorurteilen und diskriminierenden Gesetzen seiner Zeit. Denn Turing war homosexuell – und stand offen dazu. Für ihn war dies völlig normal und kein Grund sich zu verstecken. Auch damit allerdings war Turing seiner Zeit weit voraus. Denn im engstirnigen Milieu der frühen 1950er Jahre war dies nicht nur „verwerflich“, Beziehungen zwischen Männern waren auch strafbar.
Ein Fall für die Polizei wurde Turing Anfang 1952. Er hatte kurz zuvor in Manchester einen jungen Mann namens Arnold Murray kennengelernt und ihn zu sich nach Hause eingeladen. Murray aber entpuppte sich als Gauner, der wenig später einem Komplizen half, in Turings Haus einzubrechen. Turing meldete den Einbruch der Polizei und erwähnte dabei wahrheitsgemäß, dass er eine sexuelle Beziehung zu Murray gehabt hatte. Das erwies sich als böser Fehler: Nicht der Einbrecher, sondern Turing wurde verhaftet und am 31. März 1952 wegen „grober Unzucht“ verurteilt. Das Gericht ließ Turing nur die Wahl, entweder ins Gefängnis zu gehen oder sich einer Hormonbehandlung zu unterziehen.
Turing wählte die ein Jahr dauernde Behandlung mit Östrogenen, die ihn chemisch kastrierte und seinen Körper verweiblichte. Als Folge des Urteils wurde Turing zudem seine Sicherheitsfreigabe entzogen und er durfte nicht mehr weiter als kryptoanalytischer Berater für die britische Regierung arbeiten. Forscher vermuten heute, dass die Folgen der Hormonbehandlung und diese Rückschläge dazu beitrugen, dass Turing depressiv wurde und letztlich sein Leben beendete.
Warum der Apfel?
Warum Turing ausgerechnet einen vergifteten Apfel als Todesursache wählte, ist bis heute unklar. Der Schriftsteller David Leavitt ist der Ansicht, dass Turing damit seine Lieblingsszene aus dem Disneyfilm „Schneewittchen“ nachvollzog, bei der die böse Hexe den Apfel in Gift taucht. Andrew Hodges, Autor der Turing-Biographie, vermutet eher, dass Turing diese Todesart wählte, damit seine Mutter sie als Unfall sehen konnte. Sie glaubte fest daran, dass ihr Sohn aus Versehen im Rahmen eines seiner chemischen Experimente Gift auf den Apfel übertragen habe.
Klar ist allerdings heute, dass der angebissene Apfel des Apple-Logos nicht als Anspielung und Hommage an Alan Turing gedacht war. Darauf angesprochen sagte Steve Jobs gegenüber dem britischen Schauspieler und Moderator Stephen Fry in einer Fernsehshow: „Es ist nicht wahr – aber wir wünschten es wäre so.“
Turing ist inzwischen zwar offiziell rehabilitiert, seine damalige Verurteilung aber ist bis heute nicht aufgehoben worden. „Es tut uns leid. Du hast so viel Besseres verdient“. Mit diesen Worten entschuldigte sich der britische Premierminister Gordon Brown im Jahr 2009 posthum bei Alan Turing – mehr als 50 Jahre nach dem Tod des Mathematikers. Brown bezog sich damit nicht nur auf die Diskriminierung und Kriminalisierung des Mathematikers zu dessen Lebzeiten, sondern wohl auch auf den Mantel des Vergessens, der Turing jahrzehntelang umhüllte.