Lieber schräg als perfekt: Die auf Pythagoras zurückgehende Harmonielehre der „perfekten Intervalle“ stimmt nur zum Teil, wie Experimente enthüllen. Denn wenn Menschen die für sie wohlklingendsten Akkorde bewerten oder selbst einstellen sollen, weichen die Tonabstände von den ganzzahligen, pythagoräischen Frequenzverhältnissen ab. Demnach bevorzugen wir Harmonien, deren Tonspektrum ein winziges Bisschen „schräg“ klingt. Wie sehr, hängt zudem vom Timbre der Instrumente ab – auch dies widerspricht der gängigen Musiktheorie.
Ob Mozart, die Beatles oder Taylor Swift: Die Freude an der Musik ist tief in unserem Wesen verankert. Je nach Rhythmus, Melodie und Harmonien kann uns Musik mobilisieren, beruhigen oder auch tiefe Gefühle wecken – selbst Kinder im Mutterleib reagieren schon auf Musik. Unser Gehirn erkennt vertraute Musik in Sekundenbruchteilen und hat sogar ein eigenes Zentrum für die Verarbeitung von Gesang.
Doch was bestimmt, ob ein Akkord harmonisch und angenehm oder dissonant und „schräg“ klingt? Darüber machte sich schon der griechische Gelehrte Pythagoras Gedanken. Er stellte fest, dass Töne, deren Schwingungszahl im Verhältnis ganzer Zahlen wie 3:4 oder 1:2 stehen, besonders harmonisch zusammenklingen. Diese Erkenntnis bildet bis heute die Basis unserer westlichen Musik und ihrer Harmonien. Warum wir diese Tonintervalle jedoch als harmonisch empfinden und ob dies wirklich universell gültig ist, ist strittig.
Pythagoras auf dem Prüfstand
Ob Pythagoras und die auf seinem Harmonieverständnis beruhenden Modelle universell gültig sind, haben nun Raja Marjieh von der Princeton University und ihre Kollegen untersucht. Sie wollten vor allem überprüfen, welche Rolle das Timbre – das von verschiedenen Instrumenten erzeugte Tonspektrum – für den konsonanten Wohlklang spielt. „Nach traditioneller Ansicht ist dieser unabhängig vom Timbre der Musik“, erklären die Forschenden.
Stimmt dies, sollte allein das ganzzahlige Intervall den Wohlklang bestimmen, nicht die zusätzlichen Obertöne und Harmonien, die ein Klavier von einer Geige oder einem Xylophon unterscheiden. Ob das stimmt, testeten Marjieh und sein Team mit 23 verschiedenen Online-Experimente und mehr als 4.270 Testpersonen. Diese sollten verschiedene Zwei- und Dreiton-Harmonien nach ihrem Wohlklang bewerten. Insgesamt lieferte dies mehr als 235.000 Einzelbewertungen.
Der Clou dabei: Einige der Test-Akkorde entsprachen dem perfekten ganzzahligen Frequenzintervall, bei anderen waren die Tonabstände leicht gestaucht oder gedehnt – ohne dass die Testpersonen es wussten. Zudem entfernte das Team bei einigen Akkorden bestimmte Ober- oder Zwischentöne, die unter anderem für die Klangunterschiede verschiedener Instrumente verantwortlich sind. In einer weiteren Versuchsvariante sollten die Testpersonen mithilfe eines Schiebereglers die für sie angenehmsten Intervalle selbst einstellen.
© University of Cambridge
Die optimale Harmonie ist nicht perfekt
Das überraschende Ergebnis: In vielen dieser Experimente bewerteten die Testpersonen nicht das perfekte, ganzzahlige Frequenzintervall als das angenehmste und harmonisch klingendste. Stattdessen zogen sie meist leicht kleinere oder größere Tonabstände vor. „Wir sehen beispielsweise bei der Oktave und der großen Sexte zwei klare Präferenzpeaks beiderseits des korrekt intonierten Intervalls“, berichten Marjieh und sein Team. Ähnliches zeigte sich bei anderen Tonintervallen. Auch wenn die Testpersonen selbst die Tonabstände einstellen sollten, wählten sie meist nicht das perfekt gestimmte Intervall.
Das bedeutet: Anders als von Pythagoras und seinen Nachfolgern postuliert, haben wir Menschen offenbar doch keine Präferenz für die perfekten, genau ganzzahligen Harmonien. „Wir bevorzugen stattdessen leichte Abweichungen“, sagt Koautor Peter Harrison von der University of Cambridge. „Wir mögen offenbar ein gewisses Maß an Imperfektion.“
Auf das Timbre kommt es (doch) an
Und noch etwas enthüllten die Experimente: Anders als es die gängigen Modelle vorhersagen, spielt das Timbre der musikalischen Töne – und damit der spezifische Klang eines Instruments – eine wichtige Rolle für unsere Harmonien-Vorliebe. Entfernten die Forschenden beispielsweise bestimmte Obertöne und Resonanzen aus dem Tonspektrum, veränderten sich Bewertungen der Testpersonen – ihre Vorliebe für leicht „schräge“ Intervalle verschwand.
Ähnliches zeigte sich, als das Team den Testpersonen Akkorde von asiatischen Instrumenten wie dem Bonang aus dem indonesischen Gamelan-Orchester vorspielte. Dieses Instrument besteht aus einer Reihe von Gongs unterschiedlicher Tonhöhe. „Wenn wir Instrumente wie das Bonang nutzen, gehen die speziellen Zahlen des Pythagoras komplett flöten und wir begegnen ganz neuen Muster der Harmonien und Dissonanzen“, erklärt Harrison. „Sie erzeugen Resonanzen mit Frequenzkomponenten, die nicht den traditionellen mathematischen Verhältnissen entsprechen.“
Mit diesen Klängen konfrontiert, präferierten sowohl die westlichen wie asiatischen Testpersonen Tonintervalle, die nicht dem ganzzahligen Idealverhältnis entsprachen. „Je nach Instrument kann man demnach eine ganz neue harmonische Sprache erschließen, die Menschen ebenfalls intuitiv als angenehm empfinden“, so Harrison.
Widerspruch zur westlichen Musiktheorie
Das bedeutet: Pythagoras lag zumindest teilweise falsch. „Unsere Ergebnisse stehen im Widerspruch zu Jahrhunderten der westlichen Musiktheorie und zu Studien der empirischen Psychologie“, konstatieren Marjieh und seine Kollegen. Zwar stimmt es, dass ganzzahlige Tonintervalle als angenehm empfunden werden. Doch dies gilt nur für reine, weitgehend obertonfreie Töne. Bei normalerer Musik und dem Klang von Instrumenten bevorzugen wir hingegen oft die nicht ganz so perfekten Intervalle.
Aber warum? Eine mögliche Erklärung ist das typische Reiben oder Pulsieren, das bei leicht schrägen Harmonien entsteht. „Das verleiht der Musik Lebendigkeit und macht es daher für uns attraktiv“, so Harrison. Gleichzeitig könnte dies auch erklären, warum viele nicht westliche Kulturen andere Tonleitern und Harmonien entwickelt haben: Die resonanten Harmonien ihrer Instrumente erzeugen eine andere Palette an angenehm klingenden Frequenzkombinationen. (Nature Communications, 2024; doi: 10.1038/s41467-024-45812-z)
Quelle: University of Cambridge