Heutige Melodien sind simpler gestrickt als noch vor 70 Jahren
Musikgeschichte: Die Melodien von Charthits haben seit den 1950er Jahren stetig an Komplexität eingebüßt, wie eine Studie zeigt. Beliebte Songs sind dadurch heute deutlich einfacher gestrickt als noch vor 70 Jahren. Grund dafür könnte die Entwicklung neuer Genres wie Disco oder Hip-Hop sein. Aber auch technische Neuerungen hatten wahrscheinlich ihren Einfluss auf die Melodien von populären Liedern.
Von Elvis, den Rolling Stones und den Beatles über Pink Floyd, Roxette und Michael Jackson bis zu Beyoncé und Taylor Swift: Es gibt Musik, die beliebter und erfolgreicher ist als andere Werke. Wer in den Charts früherer Jahrzehnte stöbert, trifft dort jedoch tendenziell häufiger auf musikalisch außergewöhnliche Lieder als im heutigen Einheitsbrei der Charterfolge. Beliebte Songs und Ohrwürmer scheinen mit der Zeit auch merklich schneller geworden zu sein. Doch ist dies nur ein subjektiver Eindruck oder lässt sich das belegen? Und was hat diese Entwicklung vorangetrieben?
Chart-Erfolge im Vergleich
Um das herauszufinden, haben Madeline Hamilton und Marcus Pearce von der Queen Mary University of London untersucht, wie sich die beliebtesten Ohrwürmer in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben. Dafür analysierten sie die Hauptmelodien von über 1.100 Singles, die es zwischen 1950 und 2022 jeweils zum Jahresende unter die Top 5 der US-Billboard-Charts schafften, und verglichen diese mathematisch hinsichtlich verschiedener musikalischer Merkmale. Beispielsweise prüften sie Rhythmus und Tonstruktur in Bezug auf Vielfalt, Anzahl und Dauer der Töne.
Schneller, aber langweiliger?
Die Analyse ergab, dass die Komplexität der Rhythmen und der Anordnung von Tonhöhen in diesem Zeitraum abgenommen haben. Zugleich nahm die durchschnittliche Anzahl der pro Sekunde gespielten Noten und die Anzahl der Wiederholungen zu. Die Melodien der beliebtesten Charthits sind demnach mit der Zeit schneller und monotoner geworden.
Innerhalb dieses langjährigen Trends stachen mit 1975 und 2000 zwei Jahre heraus, in denen die melodische Komplexität besonders stark abnahm, wie das Team berichtet. 1996 verzeichnete die Musikgeschichte ebenfalls einen solchen Sprung, in diesem Jahr fiel er jedoch weniger drastisch aus als in den beiden anderen Jahren.
Neue Genres veränderten die Hit-Melodien
Die melodischen Veränderungen, die 1975 stattfanden, könnten den Aufstieg neuer Vorlieben und Musik-Genres wie New Wave, Disco und Stadionrock repräsentieren, vermuten Hamilton und Pearce. Die „Revolutionen“ in den Jahren 1996 und 2000 könnten wiederum den Aufstieg des Hip-Hop und die Einführung digitaler Audio-Workstations darstellen, die das wiederholte Abspielen von Audio-Loops ermöglichten.
Verglichen mit früheren Studien kommen die Forschenden zu dem Schluss, dass diese musikalischen „Revolutionen“ jeweils einige Jahre später stattfanden als bisher angenommen.
Monotoner bedeutet nicht unbedingt schlechter
Im Zuge dieser Innovationen sind populäre Melodien jeweils simpler geworden, schließen die Forschenden zudem. Dies bedeute jedoch nicht zwangsläufig, dass die Musik insgesamt an Komplexität eingebüßt hat oder „schlechter“ geworden ist, betonen Hamilton und Pearce. Die Qualität und Kombination von Klängen könnte sich unabhängig von den Melodien oder sogar gegenläufig weiterentwickelt haben.
So könnten einfachere Melodien beispielsweise auch eine Folge dessen sein, dass modernere Lieder immer schneller wurden: Die Künstler könnten auf komplexe Melodien verzichtet haben, um die Hörer nicht zu überfordern. Auch könnten die Künstler sich statt auf die Melodie stärker auf die Tonqualität oder andere Merkmale konzentriert haben, was erst mit den digitalen Techniken möglich wurde.
Auch spiegelt die Studie nicht die gesamte Musikgeschichte wider. „Da die Stichprobe nur die fünf beliebtesten Songs jedes Jahres enthält, kann nicht gesagt werden, dass sie US-amerikanische oder westliche Popmusik im Allgemeinen repräsentiert. Daher betonen wir, dass ein viel größerer Datensatz an Melodien benötigt wird, um die Schlussfolgerungen der Studie zu verifizieren“, schreiben die Forschenden. (Scientific Reports, 2024; doi: 10.1038/s41598-024-64571-x)
Quelle: Nature