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Diderot und die Freiheit

Diderot und die Freiheit

Er war eine der größten Stimmen der französischen Aufklärung. Mehr noch als seine berühmten Kollegen Rousseau und Voltaire war Denis Diderot ein extrem unbequemer, aber auch tiefschürfender und aufgeschlossener Philosoph. Ein Wort ist ihm auf den Leib geschrieben: Freiheit. Freiheit im Leben, Denken und im Handeln.
Von 
Raphaël Enthoven

Denis Diderot war vielleicht der freieste Mensch seiner Zeit – zusammen mit Voltaire und de Sade oder lange davor Sokrates. Doch das Großartige – und Bizarre – des Zeitalters der Aufklärung liegt auch darin, dass es gerade Diderot war, der Rebell par excellence, der die Idee des freien Willens infrage stellte und die Mechanismen hinter den Entscheidungen entlarvte, von denen wir glauben, wir träfen sie völlig unabhängig.


Diderot? Ein freier Denker, der den Geist dem Körper unterordnet. Ein Kämpfer, der das Begehren an die Stelle des Willens setzt. Seine Bücher lehren uns die Einsicht in die Notwendigkeit. Denn Freiheit heißt nicht zu tun, was man will, sondern zu wissen, wodurch unser Leben determiniert ist. Dies zeigt sich auch an Diderots Arbeit an der „Enzyklopädie“. Es ist nicht nur der Ehrgeiz, „die Philosophie populär zu machen“ und die Gesamtheit des verfügbaren Wissens in ein Nachschlagewerk zu fassen, der Diderot die Kraft im Kampf gegen diejenigen gibt, die versuchen, das Erscheinen des Werks zu verhindern, sondern vor allem die Lust auf eine Herausforderung, das Gefühl einer zwingenden Notwendigkeit. Diderot triumphiert am Ende über all jene, die ihn mit Schmutz bewerfen, weil er es als seine Pflicht begreift, einem Buch zur Entstehung zu verhelfen, „das man bei allen Fragen zu Rate ziehen könnte und das zur Anleitung derer, die sich stark genug fühlen, bei der Belehrung der anderen mitzuarbeiten, ebenso dienlich wäre wie zur Aufklärung derer, die sich nur selbst belehren wollen“. Sein Mut bestand nicht so sehr in einer Rebellion mit wehenden Fahnen, sondern darin, dem Gebot der Stunde und einem Talent zu folgen. Die Unabhängigkeit, die Diderot an den Tag legte, war eher ein Drang als ein freier Wille. Diderot gewinnt (und mit ihm die Freiheit), weil er keine Wahl hat. Er ist frei, weil er entschlossen ist.

Die politische Freiheit selbst denkt Diderot als Notwendigkeit nach dem Vorbild molekularer Anziehungskräfte. Die Gesellschaft ist ein Ameisenhaufen, ein Bienenstock, ein kollektives Wesen: „In einem wohlgeordneten Staat kann ein Stadtstaat als eine einzelne Person betrachtet werden und der Zusammenschluss der Stadtstaaten als eine Person und letztere Person untersteht einer Macht, die einem physischen Individuum oder einem unabhängigen moralischen Wesen obliegt, dessen Aufgabe es ist, über das Wohl der Stadtstaaten im Allgemeinen und im Besonderen zu wachen.“ Es ist die Pflicht jedes Bürgers, sich dem Sturz des Souveräns entgegenzustellen. Denn es ist die Aufgabe des Königs (und hier ist nicht ein König von Gottes Gnaden gemeint, sondern nur der Repräsentant einer Souveränität, die prinzipiell komplett in den Händen des Volkes liegt), über die organischen Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklung zu wachen.

Plädoyer für eine sinnliche Welt

Wenn sich der fröhliche Materialist gegen die Asketen auflehnt und für eine sinnliche Welt plädiert, die Lust, das Begehren und guten Wein verteidigt gegen all jene, die die Wollust für ein Laster halten; wenn der Philosoph sich also erneut der Unterwerfung verweigert, so beruft er sich paradoxerweise darauf, den zwingenden Gesetzen des „rebellischen Leibes“ zu gehorchen. Besser, man ist ein Sklave seines Begehrens, als sklavisch zu versuchen, dieses zu bekämpfen. Der glückliche Mensch, der die Schwäche seines Fleisches anerkennt, ist stärker als jemand, der stolz glaubt, sich davon zu distanzieren, indem er sie verleugnet. Wer kühn einwilligt in die ihn konstituierende Notwendigkeit, ist anders frei als jemand, der glaubt, sich über den Lauf der Dinge kraft seines Willens hinwegzusetzen. So beschreibt Diderot auf brillante Weise die Neurosen, zu denen das Milieu der Klöster führt, und die Unglückseligen, die die Verleugnung des Körpers zur Gewalt zwingt – wie die lesbische Oberin im Kloster Saint-Eutrope (in „Die Nonne“), deren Wahnsinn und letztendlicher Tod die direkte Folge davon sind, dass man ihr gewisse Freuden vorenthält, die sie dennoch sucht – sich dies aber nicht verzeihen kann: „Das ist das Ergebnis der Abgeschiedenheit.

„Er war in allem einen Schritt voraus“

Diderots Leben ist ein Akt der Freiheit. Selbst da, wo es den meisten Zwängen unterlag. Nehmen wir die ‚Enzyklopädie‘: Dieses kolossale Unternehmen, das ursprünglich nicht seine Idee war, wurde ab dem Erscheinen des zweiten Bandes 1752 verboten. Es musste im Geheimen weitergearbeitet werden. Am Ende opfert Diderot dem Projekt ‚fünfundzwanzig Jahre [s]eines Lebens‘. Er zeigt jedoch eine bewundernswerte Hingabe, verfasst Hunderte von Artikeln, liest den allergrößten Teil der 60 000 anderen Artikel gegen, bemüht sich um erstklassige Autoren. In diesem engen Rahmen scheinen dennoch kühne Geistesblitze hervor. So macht Diderot vom Artikel ‚Menschenfresser‘ einen Verweis auf den Artikel ‚Eucharistie‘. Das Christentum mit dem Kannibalismus zu vergleichen, ist zumindest gewagt – die Zensur bemerkte nichts.

Er ist vielleicht der Letzte, der die Gesamtheit des verfügbaren Wissens überblickte – und in allen Bereichen einen Schritt voraus war. Man lese etwa seine Schrift ‚Zur Interpretation der Natur‘: Diderot skizziert hier eine Evolutionstheorie, die Darwin erahnen lässt; außerdem stellt er sich elementare, nichtlebende Einheiten vor, die aus Materie und Bewegung bestehen und sich zu immer komplexeren Gebilden zusammenfügen, bis sie die Ebene des Lebendigen erreichen. Das ist bereits der Gedanke der Nuklearphysik und der heutigen Biologie. Ein weiteres Beispiel: Diderot sieht die ökologischen und kolonialen Probleme vorher, noch bevor sie sich stellen. Ich denke an‚ Die Geschichte beider Indien‘, die unter dem Namen des Abbé Raynal erschien, aber an der Diderot mitschrieb. Darin verurteilt er die westlichen Bestrebungen, über die Natur und die ‚Eingeborenen‘ zu herrschen, und plädiert für ein Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Was Frankreich betrifft, so hat Diderot gespürt, dass die Revolution in der Luft lag.

In einem außergewöhnlichen Text ‚Discours d’un philosophe à un roi‘, verfasst 1774, kurz nach dem Tod von Louis XV., geht er so weit, von Messern zu sprechen ‚in den Händen des Volkes, um den König zu schneiden‘. Hier und andernorts, vor allem in der ‚Enzyklopädie‘, stellt Diderot eine Theorie auf, die Empörung als Grundlage der Souveränität des Volkes und als Motor der Geschichte denkt. Da es offensichtliche Ungerechtigkeiten gibt, muss den Individuen das Recht zugestanden werden, sich gegen einen despotischen Staat aufzulehnen. Schließlich ist da aber noch der Mensch. Unglaublich faszinierend, witzig, ein treuer Freund, ein leidenschaftlicher Liebhaber, bescheiden, der nicht zögert, seine Widersprüche und seine Verletzlichkeit zu zeigen. Ich hätte sehr gern einen Freund gehabt wie ihn.“

Von Jacques Attali
Der Ökonom und Schriftsteller war Berater des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand. 2012 erschien auf Französisch seine Diderot-Biografie (Fayard, 2012)

Der Mensch ist für die Gesellschaft geboren. Sondert ihn ab, isoliert ihn, und seine Gedanken verwirren sich, sein Charakter wird verschroben, tausend lächerliche Gelüste keimen in seinem Herzen; abartige Gedanken wuchern in seinem Hirn wie Dornengestrüpp auf Brachland. Versetzt einen Menschen in einen Wald, und er wird ein reißendes Tier; sperrt ihn in ein Kloster, wo zur Bedürftigkeit der Zwang tritt, und es wird noch schlimmer. Aus einem Wald kommt man heraus, aus einem Kloster nicht mehr; im Wald ist man frei, im Kloster ein Sklave.“

Die befreite Sexualität, die Diderot seinen Lesern anpreist, zielt nicht darauf, die Gegner zu brüskieren, sondern ist die erste Konsequenz einer Hingabe an die Gebote des Körpers. Onanie? – „Das ist doch ein Bedürfnis, und selbst wenn man nicht durch das Bedürfnis dazu getrieben würde, wäre es immerhin eine angenehme Sache.“ Die Ehe? – „ein Gebot, das die Veränderung ausschließt, die in uns liegt; das eine Beständigkeit erheischt, die nicht in uns liegen kann“. Treue? – „nur eine fixe Idee, eine Folter für den anständigen Mann und die anständige Frau“. Eifersucht? – die „Leidenschaft eines bedürftigen und gierigen Tiers, das fürchtet, entbehren zu müssen“. Oder wie schließlich eine Figurin„D’AlembertsTraum“sagt:„Alles,wasist,kann weder widernatürlich noch unnatürlich sein.“ Essen, Trinken und Sex sind keine Angelegenheiten der Moral.

In der Tradition von Montaigne und Spinoza, aber noch vor Nietzsche und sogar vor dem Marquis de Sade setzt Diderot das Erbe der genealogischen Philosophen fort, denen zufolge die Wahrheit an sich weniger interessant ist als die Gründe, aus denen wir glauben, was wir glauben. Es ist unerheblich, ob Gott existiert, es kommt darauf an, die Gründe zu untersuchen, die uns dazu bringen, an ihn zu glauben. In dem „Brief über die Blinden“ vertritt Diderot die Auffassung, dass das Argument derer, die an die göttliche Vorsehung glauben (die Welt ist schön, also existiert Gott), nicht gilt, weil es einem Menschen ohne Augenlicht verwehrt bleibt. Es ist völlig gleichgültig, ob Homosexualität eine Sünde ist, es zählen lediglich die Gründe, die jemanden dazu bringen („Reiz der Schönheit“, „Mangel an Frauen“). „Ein bisschen spielt der Schwanz tief in unsere erhabensten Gefühle und reinsten Zuneigungen hinein“, heißt es deshalb bei Diderot. Jeder vorgeblich reine Gedanke ist das Simulakrum eines sündigen Geistes. Als Therapie empfiehlt der Philosoph, nicht Schwäche und Bedrohung zu fokussieren, sondern sich stattdessen in Zweifel, Toleranz und ein wenig Introspektion zu üben: „Schweig, Unglücklicher, und bedenke, dass nur die Lust dich aus dem Nichts gezogen hat.“

Diese trotzige Einstellung gegenüber der Wahrheit führt dazu, dass Diderot den anderen verstehen will, ehe er über ihn urteilt – weshalb seine Gegner irrtümlicherweise meinen, dass der Philosoph sich widerspreche. Mit dieser Geisteshaltung richtet er immer wieder die schwerwiegendsten Einwände gegen sich selbst. So bringt etwa Rameaus Neffe in dem gleichnamigen Roman als Herr „Er“ – das chaotische Alter Ego des zukünftigen Figaro von Beaumarchais – den Philosophen (Herrn „Ich“) zweimal aus dem Konzept: das erste Mal, als er behauptet, dass die Erziehung keinerlei Einfluss auf die „verfluchte väterliche Faser“ habe (mit anderen Worten, Bildung kann gegenüber angeborenen Stärken und Schwächen nichts ausrichten), und das zweite Mal, als er das Kartenhaus einer auf den Zehn Geboten beruhenden Moral zum Einsturz bringt („So meint Ihr denn also wirklich, man müßte rechtschaffen sein? ICH. – Um glücklich zu sein, gewiß! ER. – Indessen sehe ich unendlich viel rechtschaffene Leute, die nicht glücklich sind, und unendlich viel Leute, die glücklich sind, ohne rechtschaffen zu sein“).

Sind wir die Marionetten der Vorsehung oder die Darsteller einer Rolle, die geschrieben wird, während man sie spielt?

Offenheit als Tugend

Wenn die Moral nicht mehr festgeschrieben ist, bleibt das einzige Argument für sie das Glück, welches sie verschafft. Doch es bleibt unklar, ob Rameau beweisen kann, dass der Böse leidet und dem Rechtschaffenen das Glück garantiert ist. Hier zeigt sich die Demut des Enzyklopädisten, der die Möglichkeit in Betracht zieht, Erziehung könne nutzlos sein. Die Größe des Philosophen, der sich beeilt, am Ende einer Wahrheit der entgegengesetzten Wahrheit ihre Chance zu geben. So wie Diderots Freimütigkeit seinen Freund Rousseau dazu ermutigt, seine „Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste“ zu schreiben, wohl wissend, dass der Genfer die Absicht hatte – gegen die Enzyklopädisten – zu zeigen, dass der Fortschritt der Wissenschaften zum Verfall der Sitten führte.

Es gibt wohl niemanden außer Diderot, der so sehr – und so wenig – Sokrates ähnelt. Mit dem griechischen Philosophen, der verurteilt wurde und dessen Verteidigungsrede Diderot neu übersetzt, identifiziert er sich seit seiner Gefangenschaft in der Festung Vincennes, wie er auch Aristophanes, dessen Stück „Die Wolken“ das Todesurteil gegen Sokrates befördert hatte, mit dem Dramatiker Palissot vergleicht, dessen Stück „Les Philosophes“ sich über die Enzyklopädisten lustig machte: „ein böser armer Teufel, ohne Wissen, ohne Genie, ohne Prinzipien und ohne Moral“. Seine Dialoge jedoch, vor allem „Rameaus Neffe“ und „Jakob und sein Herr“, dekonstruieren sorgfältig das dialektische Gedankengebäude, für das Sokrates stand. Hier gibt es keinerlei System oder Beweisführung. Lediglich ein Gespräch, das nirgendwohin führt, vergebliche Worte. Statt der argumentativen Bewegung, die Sokrates’ Fragen vollziehen, gibt es hier nur Gedankenassoziationen.

Freiheit ist für Diderot nicht der freie Wille – es gibt nämlich keinen Platz für den freien Willen, wenn alles Materie ist. Doch Freiheit lässt sich darum noch nicht in die Mechanismen einer trägen Masse auflösen, denn auch wenn alles Materie ist, so ist die Materie nicht das Ganze: Den universellen Gesetzen der materiellen Mechanik fügt Diderot den Funken der Aktivität hinzu, den Funken der Sensibilität („dann muss der Stein empfinden“), dass pontane Vermögen zur Selbstorganisation und die Fähigkeit, Leben hervorzubringen. Mit der Vitalität, wenn nicht gar Vitalismus, die Diderot der Materie injiziert, entdeckt er, wie fließend die Welt unter der vorübergehenden Stabilität ihrer Formen ist. „Ich denke über etwas nach“, sagt der Herr des Fatalisten Jakob zu seinem Diener, „ob nämlich dein Wohltäter zum Hahnrei geworden wäre, weil es dort oben geschrieben stand, oder ob es dort oben geschrieben stand, weil du deinen Wohltäter zum Hahnrei machen würdest.“ Mit anderen Worten: Ist alles schon vorab geschrieben oder wird alles Schritt für Schritt im Laufe des Lebens geschrieben? Sind wir die Marionetten der Vorsehung oder die Darsteller einer Rolle, die geschrieben wird, während man sie spielt?

Es ist die zweite Hypothese, der Diderot in seinem gesamten Werk huldigt: Freiheit ist weder ein sich durchsetzender Wille noch ein sich entwickelndes Wesen, sondern eine Übereinstimmung mit sich selbst durch Einwilligung, eine Figur, die erkennbar wird, je mehr sie sich entwickelt, eine spontane Geste, die alle sie determinierenden Gründe zum Ausdruck bringt und vertieft – wie bei guten Schauspielern, die bei ihrem Auftritt sofort einen Eindruck von der Geschichte und den Kräfteverhältnissen der dargestellten Szene vermitteln. Die moralische Entsprechung dieser Geste wäre in einer Tugend zu suchen, die weder aus dem Nichts kommt noch auf eine Belohnung hofft, sondern ihr eigener Selbstzweck ist. Das ist Freiheit im Sinne Diderots, dank dem die Aufklärung, wenigstens einen Moment lang, dem Weg Spinozas statt dem Descartes’ gefolgt ist.

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