Wissenschaftler schlagen Alarm: In den Kliniken der Ukraine breiten sich extrem resistente Bakterien aus. Viele im Krieg verletzte Patienten tragen Krankheitserreger in sich, die selbst gegen Notfall-Antibiotika immun sind, wie Probennahmen ergeben haben. Sechs Prozent der beprobten Keime waren sogar gegen alle bekannten Antibiotika resistent. Einem solchen Ausmaß der Antibiotika-Resistenz sei man noch nirgendwo begegnet, selbst in Indien und China nicht, berichten die Forschenden. Hilfe sei dringend nötig.
Immer mehr bakterielle Krankheitserreger sind gegen gängige Antibiotika immun. Sie haben durch Mutationen Abwehrmechanismen gegen die antibiotischen Wirkmechanismen entwickelt und geben die entsprechenden Resistenzgene dann an Bakterien anderer Arten und Gruppen weiter. Als Folge sind viele Erreger inzwischen selbst gegen Notfall-Antibiotika wie Colistin und neue Wirkstoffe immun. Als Folge starben allein im Jahr 2019 mehr Menschen an eigentlich heilbaren Infektionen als an HIV oder Malaria.
Hilferuf aus der Ukraine
Jetzt enthüllt eine Studie, dass sich auch die Ukraine zu einem Hotspot der Antibiotika-Resistenzen entwickelt hat. Dort waren schon seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 vermehrt Resistenzen in Militärkrankenhäusern aufgetreten, mit Beginn des Krieges im Februar 2022 hat sich die Lage noch verschärft. Der ukrainische Mikrobiologe Oleksandr Nazarchuk von der Universität Winnyzia bat daher schwedische Kollegen um Unterstützung bei der Erfassung der Resistenz-Lage.
Zwischen Februar und September 2022 reiste ein Forschungsteam unter Leitung von Kristian Riesbeck von der Universität Lund mehrfach in die Ukraine und entnahm in drei Krankenhäusern Proben von insgesamt 141 Patienten. Bei diesen handelte es sich um 133 schwerverletzte Soldaten und Zivilisten mit kriegsbedingten Geschosswunden, Verbrennungen oder Knochenbrüchen und acht Kinder mit Lungenentzündung. Alle Patienten standen im Verdacht, unter bakteriellen Infektionen zu leiden.
Bisher beispielloses Ausmaß an Resistenzen
Die Auswertung der Proben enthüllte eine alarmierend große Zahl von multiresistenten Erregern: „Mehrere der gramnegativen Bakterien zeigten eine Resistenz gegen Breitband-Antibiotika, darunter auch neu entwickelte enzymhemmende Wirkstoffe, die noch gar nicht auf dem Markt erhältlich sind“, berichtet Riesbeck. Zu den betroffenen Antibiotika gehört die speziell gegen schon anderweitig resistente Bakterien eingesetzte Wirkstoffkombination Ceftazidim-Avibatam – 80 Prozent der in den ukrainischen Kliniken isolierten Erreger war gegen dieses Mittel immun.
Resistenzen fanden die Forschenden auch gegen das erst 2020 in der EU zugelassenen Reserve-Antibiotikum Cefiderocol und die ebenfalls neuen Wirkstoff-Kombination Ceftolozan-Tazobactam. „Darüber hinaus waren fast zehn Prozent der Proben gegen unser nur im größten Notfall verabreichtes Reserve-Antibiotikum Colistin resistent“, sagt Riesbeck. „Bis zu sechs Prozent der Proben enthielten Bakterien, die gegen jedes getestete Antibiotikum immun waren.“
Dieses Ausmaß der bakteriellen Resistenz sei alarmierend: „Ich bin inzwischen schon einiges gewöhnt und habe schon viele Patienten und Bakterien untersucht. Aber ich muss zugeben, dass ich noch nie zuvor so resistenten Bakterien begegnet bin“, sagt Riesbeck. „Selbst in Indien und China, wo wir schon viele multiresistente Erreger gefunden haben, haben wir nichts mit diesem Ausmaß an Resistenzen Vergleichbares gefunden.“
Extreme Resistenz auch bei „Superkeim“ Klebsiella
Ein besonders breites Spektrum an Resistenzen zeigten die in der Ukraine isolierten Proben des Erregers Klebsiella pneumoniae. Dieses Bakterium wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO als einer der gefährlichsten multiresistenten Erreger gelistet. Infektionen mit diesem Erreger können vor allem für immungeschwächte Menschen und Krankenhauspatienten tödlich enden. Aber auch bei gesunden Menschen kann Klebsiella pneumoniae Lungenentzündungen und Harnwegsinfekte verursachen.
Die ukrainischen Klebsiella-Isolate waren zu 81 bis 100 Prozent gegen fünf der sechs getesteten Antibiotika resistent, 24 Prozent wiesen zusätzlich eine Colistin-Resistenz auf. „Das macht mir große Sorgen, denn es ist sehr selten, Klebsiella-Stämme mit einem so hohen Grad an Resistenz zu finden. So etwas haben wir nicht erwartet“, sagt Riesbeck. „Zwar wurden auch in China schon einzelne Fälle dokumentiert, aber das Ausmaß der Situation hier übertrifft alles zuvor gesehene.“
Krieg an zwei Fronten
Nach Ansicht des Forschungsteams unterstreichen diese Ergebnisse, dass der Krieg in der Ukraine auch schwerwiegende medizinische Folgen nach sich zieht. „Das Gesundheitssystem der Ukraine steht unter immensem Druck. Die begrenzten Ressourcen machen es sehr schwer, die Vermeidung und Bekämpfung von Infektionen aufrechtzuerhalten“, konstatieren die Wissenschaftler. „Dies begünstigt die Ausbreitung resistenter Erreger.“
Deshalb sei es jetzt essenziell, der Ukraine auch medizinische Hilfe zu leisten. „Wir müssen ihnen helfen, diese Situation zu überwachen und in den Griff zu bekommen“, sagt Riesbeck. „Sonst besteht das Risiko einer weiteren Ausbreitung dieser resistenten Bakterien und das ist eine Gefahr für die gesamte europäische Region.“ (The Lancet Infectious Diseases, 2023; doi: 10.1016/S1473-3099(23)00291-8)
Quelle: Universität Lund